Mittwoch, 24. Dezember 2014

Des Drärchens zweiter Teil

2. Akt, I. Szene
Der Handlanger und Gustavo stehen auf dem Platz unter dem königlichen Verkündigungsbalkon; der Handlanger wirkt nervös, Gustavo trägt eine rote Samtrobe und eine Federboa, er wirkt gelangweilt. Zögerlich gesellen sich erste Ausläufer des Hofstaats zu den beiden. Es ist der 24. Dezember, kurz vor fünf.

HANDLANGER (von einem Fuß auf den anderen tretend): Wo ist sie, wo ist sie, wo ist sie …
GUSTAVO: Reg dich ab, sie wird schon kommen. Und wenn sies nicht tut, wäre auch keinem geschadet …
HANDLANGER (wirft Gustavo einen düsteren Blick unter zusammengezogenen Augenbrauen zu): Du bist dir darüber bewusst, dass dies mein Job ist, Gustavo, ich bin dafür zuständig, alles in geordneten Bahnen verlaufen zu lassen, ich …
GUSTAVO (verdreht die Augen, murmelt): Jetzt geht das wieder los.

Sie sehen sich für einen Moment angespannt in die Augen, der Handlanger setzt soeben zum sprechen an, da geht ein kleiner Tumult durch die dürftige Menschenmenge.

RITTER: Ich glaube, sie kommt.
HOFDAME I: Wurde aber auch Zeit. Mein Puder friert bereits an meinem Gesicht fest.
HOFDAME II: Das macht auch keinen Unterschied mehr …
HOFDAME I: … was?
HOFDAME II (holt tief Luft, macht unbestimmte Handgeste und setzt zu einer ohne Zweifel lang geplanten und mindestens ebenso lang zurückgehaltenen Rede an, ehe sie unterbrochen wird):
Pompöses Trompetendröhnen, untermalt vom subtilen Stöhnen aller Anwesenden sowie dem etwas weniger subtilen Stöhnen des Hofmarschalls und seiner Geliebten, die, unweit des Platzes, in einem billigen Tavernenzimmer wilden Sex haben, die königlichen Weihnachtsgrüße vergessen haben und dafür in Kürze erst von der Gattin des Hofmarschalls und, ein wenig später, vom sich dabei äußerst unwohl fühlenden Handlanger zur Rede gestellt werden.

MEGER VOHN: Volk – DIE KÖNIGIN!
GUSTAVO (leise zum Handlanger): Wie lange er das wohl einstudiert hat.
Volk: seufzt. Vereinzeltes Klatschen, gepaart vom demonstrativen Blick auf die Taschenuhr, die zwar eventuell noch nicht erfunden war, aber der Geste des demonstrativ-auf-die-Uhr-schauens sicherlich nur um ein paar Jahrhunderte dicht auf den Fersen folgte.

KÖNIGIN (schielt unauffällig auf einen Zettel, den sie geschickt in ihrem Muff versteckt hat): Holdes Volk! Wie auch im letzten Jahr wollen wir uns zusammentun und ins Dorf hinabsteigen, dem armen Volk unseren guten Willen und unsere Nächstenliebe zeigen, das Weihnachtsfest gebührlich zelebrieren und …
HANDLANGER (formt stumm die Worte mit ihr): … frohen Mut verbreiten …
GUSTAVO: Ach Gottchen.
HANDLANGER (lächelnd, den Blick auf die Königin gerichtet): Halt den Rand, Schatz.

Die Königin schweift aus. Das Volk zittert ergeben und verflucht sich in Gedanken dafür, jemals auf die blödsinnige Idee verfallen zu sein, am Hof leben zu wollen. Schließlich endet die Königin und Stille legt sich über die Menge, nur unterbrochen vom triumphalen Schrei der Geliebten des Hofmarschalls, die der Situation scheinbar mehr abgewinnen kann als die meisten anderen.
Der Handlanger wirft dem Volk einen auffordernden Blick zu und klatscht lautlos in die Hände. Zögerlich fällt das Volk ein, der leicht ins Säuerliche verrutschte Blick der Königin glättet sich soweit wie möglich. Gebieterisch hebt sie den Arm, um das Volk zum Schweigen zu bringen; der Erfolg kommt prompt. Sie blickt leicht irritiert, ruft aber dennoch zum Aufbruch.

KÖNIGIN: So sei es denn, lasst uns gehen, treue Untergebene, lasst uns unseren Großmut zeigen!

Das Trompetendröhnen setzt einen Tick zu früh ein und schneidet der Königin die letzten Silben ab, der Zug setzt sich in Bewegung. Vereinzeltes Kichern ist zu hören, der Handlanger fasst sich an die Nasenwurzel. Gustavo wirft seine Boa über die Schulter und zieht den Handlanger am Arm hinter sich her. Der Hofstaat durchschreitet gemächlich das Hoftor, weit unter ihnen wird das Dorf sichtbar.

2. Akt, II. Szene
Der Marktplatz im Dorf. Halb gefrorener Matsch mit Exkrementen türmt sich am Straßenrand; vereinzelte Fackeln erhellen die Berge malerisch. Fachwerkhäuser lehnen sich wohlig mit den Schultern eineinander und beteuern einander unter vertrauenserweckendem Knarzen ihre Zuneigung. Aus einem Brunnen in der Mitte des Platzes kommt dumpfes Klopfen, wird lauter und hektischer und erstirbt schließlich. Im Anschluss ein entferntes Rülpsen.
Menschen ziehen über den Platz, mit Säcken auf dem Rücken. Einige ziehen Karren hinter sich her. Vereinzelte Hunde streunen, ein paar Bettler sitzen in der Scheiße am Wegesrand und verfluchen die Welt erstaunlich eloquent. Der Zierfischer reibt seine Hände aneinander und räuspert sich.

ZIERFISCHER: Zierfische! Köstliche Zierfische!
PASSANT (bleibt stehen): Was?

Ein paar dicke Frauen in langen Kleidern und ein kleiner, dünner Mann treten aus einem der Fachwerkhäuser und werfen die Tür hinter sich ins Schloss. Dabei fällt ein Holzbalken aus dem Fachwerk und erschlägt im Hintergrund eine Ratte. Katzen stürzen sich auf sie, Blut spritzt.

DICKE FRAU I: Wann die blöde Ische wohl dieses Jahr kommt.
DICKE FRAU II: Von mir bekommt sich nichts!
KLEINER, DÜNNER MANN: Haben wir an die Kartoffeln gedacht?
DICKE FRAU II (stöhnt): Haben wir.
KLEINER, DÜNNER MANN (entrüstet): Schrei mich nicht so an!
DICKE FRAU II: Hab ich doch gar nicht.
KLEINER, DÜNNER MANN: Hast du wohl!
DICKE FRAU I (verdreht die Augen, schweigt und tritt beiläufig einen Hund)

Die drei verschwinden im Getümmel. Am Bühnenrand werden wir ferner Fackeln gewahr, die die fernizischen Hügel hinabwackeln und die Karawane der Königin symbolisieren. Die Menge auf dem Marktplatz formiert sich und verfällt in eine spontane Tanznummer, wobei sie etwas wie „Oh nein, da kommt sie wieder, versteckt eure Habseligkeiten oder besser noch euch selbst; ach was, zündet das Dorf an und sagt der Versicherung, es war ein Unfall“ singen, sinngemäß natürlich; bei Gelegenheit Hans Zimmer anrufen. Am anderen Bühnenrand flackert ein kleines Licht auf und gewährt uns einen kurzen Blick auf eine düstere Gestalt in einem langen Umhang, der mit düsteren Blicken um sich wirft und leise murmelt. Dann erlischt das Licht und die Karawane erreicht den Dorfeingang.

HANDLANGER (eilt zur Königin und schüttelt sie zaghaft): Eure Majestät!
KÖNIGIN (schreckt hoch. Zu den ständigen Falten gesellen sich linksseitig faltige Abrücke ihrer Stehkrause): Hmpf?
HANDLANGER: Wir sind im Dorf?
KÖNIGIN (wird langsam wach): Wo?
HANDLANGER: Im Dorf!
KÖNIGIN (Erkenntnis kriecht schwerfällig über ihr Gesicht und macht daraufhin langsam durchdringendem Unwillen Platz, ehe ihr die zu erwartenden Geschenke der Dorfbewohner einfallen): Man kündige uns an!
GUSTAVO (leise): Als ob das hier irgendwem entgangen wäre.
HANDLANGER (lächelt angestrengt und schweigt, gibt aber den königlichen Trompetern ein Zeichen. Sogleich erzittert die gefrorene Scheiße unter dem Tusch, aus dem Inneren der Dorfmauern hört man ein leises 'Autsch!' und ein geflüstertes 'Stell dich nicht so an!' als die Tänzer und Sänger eilig ihre Nummer abbrechen und versuchen, eins mit den Fachwerkhäusern zu werden.)

Die königliche Karawane schickt sich an, in das Dorf zu reiten, langsam erstirbt das Licht auf der Bühne. Dabei sehen wir wieder das Flackern am anderen Bühnenrand, die düster beumhangte Figur verfolgt die Königin mit den Augen, dreht sich schließlich um und entfernt sich in großen Schritten in die andere Richtung. Vorhang.


3. Akt, I. Szene
Ein vollgestopfter Raum. Regale bedecken die Wände, darin Wurzeln und Töpfe, getrocknete Frösche, Schweineohren, Gläser gefüllt mit in Flüssigkeit eingelegten, nicht näher zu identifizierenden Tieren. Mittig schwebt ein großer Kessel über einem leise prasselnden Feuer, gelegentlich sieht man eine dickflüssige Blase daraus hervorbrechen. Daneben ein Holztisch mit Stühlen, darauf einige nackte, hungernde Kinder, die gelangweilt Dreck unter ihren Fingernägeln hervorpulen und sich bis auf kurze, giftige Gesprächsfetzen weitgehend ignorieren.

NACKTES, HUNGERNDES KIND I (nach einer längeren Pause, an Kind neben ihm): Und was ist mit Shakespeare?
NACKTES, HUNGERNDES KIND II (ohne den Blick zu heben): Pah. Total ausgelutscht. Der wirds nie zu was bringen. Wollte ich gar nicht.
NACKTES, HUNGERNDES KIND I (nickt, hält kurz inne, dann leise): Hätten sie dich denn genommen?
Alle nackten, hungernden Kinder werden mit einem mal unauffällig sehr still. Selbst die getrockneten Säugetiere in den Regalen scheinen sich unmerklich nach vorne zu beugen.
NACKTES, HUNGERNDES KIND II (widerwillig): … nein, aber …
Alle lehnen sich gleichzeitig wieder zurück und ergehen sich in Gemurmel. Das Feuer scheint wieder lauter zu prasseln.
NACKTES, HUNGERNDES KIND III (nach ein paar Minuten Pause, in denen alle schweigend am Tisch gesessen und sich in würdevoller Mimik geübt haben): Wann wollte der Idiot nochmal zurückkommen? Und hieß es nicht, für unser leibliches Wohl sei gesorgt?
Zustimmendes Gemurmel erhebt sich. Ehe sich jedoch ernsthaft echauffiert werden kann wird die Tür aufgerissen und eine düstere Gestalt in langem, dunklem Umhang steht drohend im Raum, der Mantel weht ein wenig im Wind, der Duft der Exkremente mischt sich mit dem beißenden Odeur des Kessels (und der getrockneten Tiere). Sie schreitet in den Raum, wirft die Tür hinter sich zu und zieht sich dramatisch die Kapuze vom Kopf. Die nackten, hungernden Kinder schnappen unisono nach Luft und fahren auf, einige von ihnen schlagen sich ihre knochigen Hände vor den Mund. Das nackte, hungernde Kind rechts außen (V) blickt an die Decke und schüttelt unmerklich den Kopf)
NACKTES, HUNGERNDES KIND II: Er ist so jung!
NACKTES, HUNGERNDES KIND I: Beinahe noch ein Kind!
NACKTES, HUNGERNDES KIND IV: Kaum zu glauben, dass er bereits ein Zauberer ist!
NACKTES, HUNGERNDES KIND II: Man gebe uns zu essen!
NACKTES, HUNGERNDES KIND V: So ein Blödsinn hier …
BEUMHANGTE FIGUR: Ihr macht das sehr gut. Method Acting, richtig? Ich kenne mich da ja nicht aus. Und ich bin nur Zauberlehrling, aber vielen Dank.
NACKTES, HUNGERNDES KIND III: Im Inserat stand, es gäbe ein Buffet.
Die übrigen Kinder nicken anklagend.
ZAUBERLEHRLING (ein wenig unwillig; seiner Statur nach zu schließen ist das Wort „Buffet“ keines, das es in seinen aktiven Wortschatz geschafft hat): Später … wir haben … zu tun. Sie ist angekommen.

Die Kinder (beim aufmerksamen Zuschauer schleicht sich langsam die Vermutung ein, dass es sich dabei nicht wirklich um Kinder handelt) rutschen unangenehm auf ihren Stühlen hin und her. Der Zauberlehrling durchquert den Raum eilig, nimmt einige Dinge aus seinen Regalen und steckt sie in die zahllosen Innentaschen seines ohne Zweifel teuren Mantels. Dann wendet er sich einer kleinen Kiste zu, die auf dem obersten Regalbrett steht und unheilvoll wackelt. Gelegentlich springt sie ein wenig, beruhigt sich jedoch in der Regel daraufhin schnell wieder. Der Zauberlehrling betrachtet sie einen Moment nachdenklich, dann nimmt er sie entschlossen an sich und öffnet sie. Ein dumpfer Schein quillt aus ihr und legt sich über sein kantiges Gesicht. Dann taucht er seinen rechten Arm mit Nachdruck in die Kiste und zieht ein faustgroßes Wesen daraus hervor. Wir erhaschen einen winzigen Blick darauf, einige der nackten, hungernden Kinder schlagen sich erneut Hände vor den Mund. Nicht einmal Nummer V verdreht die Augen. Dann ist das Wesen im Mantel des Zauberlehrlings verschwunden, das Licht erstirbt langsam. Wir hören Wind um die Häuserfront kratzen. Der Kessel ist das Letzte, das noch zu erkennen ist, dann wird es dunkel.

Dienstag, 23. Dezember 2014

Des Drärchens erster Teil



Vorspiel
Dereinst im fernen Königreiche
Fand sich des Tags nach Weihnachten
Die durchaus reichlich tote Leiche
Mit vielen Falten in die (einstmals) weiche
Haut gezeichnet; man muss beachten:
Es war nicht, was die Leute dachten.
Nicht Suff noch Elend war der Grund,
Nicht Wahnsinn oder Ungesund(heit)
Aber lest selbst, doch seid gewarnt!
Im trüben Licht des Fackelscheins
Wird durchaus einiges enttarnt.

Es folgt ein Weihnachtsdrärchen
Die Krone der Königin – gewisse öffentliche Demütigungen in ein paar (zeichnerisch vermutlich durchaus herausfordernden) Akten und einem Nachhall“
Unter anderem treten auf:
Der Zauberlehrling
Die Königin
Der Handlanger
Gustavo
Nackte, hungernde Kinder
Ein Monster
Jutta
Ein uralter Mann
Meger Vohn
Zwei dicke Frauen
Ein kleiner, dünner Mann
Ein Zierfischer

Zweifelhaftes Intro

Es war einmal in einem fernen Königreich eine Königin, die es regierte, das Reich. Sie war großzügig und gutherzig und wurde von allen geliebt; ihre Gefolgschaft war ihr treu und würde es immer sein, daran bestand kein Zweifel. Sie war unermesslich reich, wie Königinnen das nun mal sind, und trotz allem ließ sie es sich nicht nehmen, jedes Jahr zu Weihnachten persönlich ihr Volk zu besuchen, um ihm frohe Weihnachten zu wünschen.
So auch in diesem Jahr, vor langer, langer Zeit, in einem fernen, fernen Königreich …

1. Akt, O. Szene
Im Dorf, es ist früher Tag, der Morgen bricht gerade aufmerksamkeitsheischend an und taucht die Szenerie in orangeflüssiges Licht. Der Zierfischer baut seinen Stand auf, um den Tag über Zierfische zu verkaufen (er blickt ein wenig mürrisch, die Geschäfte laufen nicht so gut zurzeit). Der Zauberlehrling geht leise und vollkommen aus dem Zusammenhang an ihm vorbei und murmelt.

ZAUBERLEHRLING: Es war einmal in einem fernen Königreiche, gegen Mittag, an der Eiche …
ZIERFISCHER: Wie bitte?
ZAUBERLEHRLING (bleibt einen Moment stehen, hält inne, geht weiter): Ach, nichts …

Vorhang.


1. Akt, I. Szene
Wir befinden uns im fernen, fernen Reich der Königin; im Folgenden Fernizien genannt. Der Thronsaal prunkt mit der Robe der Königin um die Wette, die Shakespearsche Halskrause war gerade in Mode gekommen. Der Handlanger steht angestrengt vor der Königin aufrecht und kann sich nur mit Mühe davon abhalten, sich müde die Stirn zu reiben, während die Königin auf dem Thron sitzt und jede ihrer Trauben einem eingehenden Casting unterzieht, ehe sie sie einzeln verspeist.

KÖNIGIN: Handlanger?!
HANDLANGER: Ja, o meine Königin?

Er schmachtete sie gewohnheitsmäßig an. Nicht, dass der Handlanger heimlich in die Königin verliebt gewesen wäre, nein, niemals, denn erstens war er schüchtern und zweitens schwul wie die Nacht schwarz, obgleich er der Königin eine gewisse Anziehungskraft nicht absprechen konnte, wenn sie majestätisch ihr knöchernes Gestell durch den königlichen Schlossgarten schob und dabei gelegentlich königinnenhaft in ihr Taschentuch hüstelte. Nach ihrer Krönung, als sie noch eine junge Königin und er ein junger, frischer Handlanger voller Tatendrang gewesen war, gingen einige Zeit Gerüchte um über ihn und ihre Majestät. Man erzählte sich, die oberste Hofstaatsstabsführerin hätte sogar eine Wette mit dem zweitobersten Hofstaatsstabkommandatenausbilder am Laufen gehabt, dem Gemunkel zufolge hatten sie um ein königliches Springpferd und eine halbe Gans gewettet - allerdings ist nie ans Licht gekommen, wer die Wette denn nun gewonnen hatte, denn kurze Zeit darauf wurde der königliche Springreitsport gestrichen und dem Hofstaat eine vegetarische Diät verordnet. Tja, was soll man machen.

KÖNIGIN: Ich wünsche, dass mir morgen Abend der Graf von Nebenan und seine reizende Familie Gesellschaft leisten zum Dinner. Oder noch besser nur der Graf von Nebenan, ohne seine reizende Familie …

Eine weitere, dunkle Geschichte aus dem Reich verwinkelter, herrschaftlicher Zwiespältigkeiten; der Handlanger seufzte.

HANDLANGER: Aber eure Majestät, morgen Abend ist doch …
KÖNIGIN: WAS ist morgen Abend?!

Sie funkelte ihn an, ihm wurde flau im Magen. Eine Falte ihres Halses kroch gemächlich über ihren spitzenbesetzten Stehkragen.

HANDLANGER: Eure königliche Hoheit, morgen ist Weihnachten, und Ihr wisst, was das bedeutet …

Sich jetzt bloß nichts anmerken lassen. Er hasste es, sie jedes Jahr daran erinnern zu müssen und hatte sich schon mehr als einmal gefragt, weswegen er immer noch königlicher Handlanger war, warum er es überhaupt geworden war. Er hätte damals die Ausbildung zum Zierfischzüchter machen, oder gleich mit Gustavo nach Holland auswandern sollen. Aber nein, sie waren geblieben, er war Handlanger, Gustavo fühlte sich nach wie vor zur Frau berufen und trat deswegen eher selten im mittelalterlichen, hofstätischen Treiben auf, und sein Vater war mittlerweile tot, Herzinfarkt, nachdem er Gustavo kennengelernt hatte und dieser ihm zur Begrüßung kokett die Hand zum Handkuss hingehalten, danach höfisch geknickst hatte und zart errötet war. Und das, wo er ihm so oft gesagt hatte, er solle es nicht übertreiben; sein Vater war da etwas altmodisch.
Wie dem auch sei, die Königin funkelte. Dann beruhigte sie sich.

KÖNIGIN: Ach ja, Weihnachten … Haben sie meinem Hofstaat bereits Bescheid gesagt?

Das war auch so eine Sache. Er musste dem Hofstaat im Grunde nicht Bescheid geben, die einzige Person innerhalb der Schlossmauern, die Weihnachten vergaß, war die Königin selbst, und vielleicht noch der Urgroßvater der ersten Schlossgrabenstehers, aber der war auch hundertundsieben, der Urgroßvater, nicht der erste Schlossgrabensteher, und hatte Alzheimer. Was zu dieser Zeit noch eine unentdeckte Krankheit war, aber wen interessiert das schon; den Urgroßvater des ersten Schlossgrabenstehers zumindest nicht, der erfreute sich abgesehen davon nämlich bester Gesundheit und lernte dabei noch jeden Tag neue Leute kennen.

HANDLANGER: Nein, eure Majestät, aber das werde ich selbstredend auf der Stelle nachholen, wenn ihr gestattet.

Die Königin wedelte mit ihrer knöchernen Hand ein bisschen in der Luft herum, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen, während ihre Mimik beschloss, zu proben wie sie sich zu verhalten hätte, sollte besagte lästige Fliege verschluckt werden. Der Handlanger machte sich eiligst auf den Weg.
Die Sache war nun also - der Teil, der es noch unangenehmer für den Handlanger machte, als es ohnehin schon war, jedes Jahr aufs neue von der Königin zur Schnecke gemacht zu werden, nur, um daraufhin wie jedes Jahr am Weihnachtsabend nicht zuhause zu sein, wo er doch wusste, wie sehr das Gustavo kränkte, kochte er doch jedes Mal, letztes Jahr hatte er sogar Eierflip gemacht - die Sache war nun also, der Hofstaat hasste es genauso wie er, am 24. Dezember von der Königin eingespannt zu werden, um das Volk zu besuchen, für das sich doch eigentlich weder der Hofstaat noch die Königin interessierte. Aber wehe, der Handlanger würde sie in einem Jahr nicht ans kommende Fest erinnern, er wäre seinen Job, und mit ihm vermutlich auch seinen Kopf, schneller los als sich Gustavo in eine seiner Designerroben werfen könnte, um zur Hinrichtung zu erscheinen. Was zur Folge hatte, dass er zunächst alljährlich vor der Königin schlecht dastand, weil er sie an unliebsame, wenn auch selbst auferlegte, Pflichten erinnerte, nur um daraufhin vor dem gesamtem Hofstaat schlecht dazustehen, der natürlich all seinen Ärger an ihm abließ.
Der Handlanger fühlte sich miserabel.

1. Akt, II. Szene
Der Handlanger begibt sich auf den königlichen Verkündigungsbalkon, Meger Vohn ihm dicht auf den Versen, der Mann mit der lautesten Stimme der Welt; ein lautes Organ, ja, nur leider würde nie mehr aus ihm werden als ein königliches Sprachrohr, war er doch bedauerlicherweise dumm wie eine Sinkwanne.1Die Sonne geht langsam unter, auf dem Platz unter dem Balkon tummelt sich das mittelalterlich berobte Volk und handelt angeregt mit Bierfässern, Giftpilzen und abgehackten Fingern. Ein Barde steht etwas abseits und stimmt verzückt seine Laute, auf einer kleinen Bühne finden letzte Proben statt. Im Hintergrund eine Hexenverbrennung. Einige Statisten sollten mimisch Gestank verdeutlichen, u.U. könnte ein ehemaliges Mitglied Monty Pythons beiläufig am Bühnenrand eine Gans wiegen; aber nur, wenn es nicht zu teuer ist.

Der Handlanger räusperte sich. Meger Vohn räusperte sich mit.

HANDLANGER: Hört, hört…
MEGER VOHN: HÖRTHÖRT!
HANDLANGER: Ja, ganz so laut wird es wohl nicht …
MEGER VOHN: JA GANZ SO LAUT WIRD …
HANDLANGER: Nein, verdammt, das sollen sie nicht wiederholen!
MEGER VOHN: NICHT?
HANDLANGER: Nein. Also, nochmal.

Der Handlanger fasste sich kurz an die Nasenwuzel und sammelte sich.

HANDLANGER: Hört, hört!

Nichts. Er warf Meger Vohn einen skeptischen Blick zu.

HANDLANGER: Hört, hört!!

Wieder nichts.

HANDLANGER: Hören sie mal, Herr Vohn, können wir das jetzt bitte …
MEGER VOHN: HÖREN SIE MAL HERR VOHN …
HANDLANGER: Nein, HERRGOTT, hören sie doch zu!

Meger Vohn blickte schuldbewusst auf den polierten Boden des königlichen Verkündigungsbalkons und nickte.

HANDLANGER: Gut, habe ich ihre volle Konzentration?

Meger Vohn nickte erneut und biss sich auf die Unterlippe. Bitte lieber Gott, mach, dass das bald vorbei ist. Der Handlanger war noch nie gut darin, anderen Anweisungen zu geben.

HANDLANGER: Hört, hört!
MEGER VOHN: Hört, hört!

Aus dem Publikum kamen erste genervte Rufe, sie würden ja zuhören, und ob man jetzt bitte weitermachen könne, das Lustspiel finge gleich an.

HANDLANGER: Die Königin lässt verkünden,
MEGER VOHN: Die Königin lässt verkünden!
HANDLANGER: Dass am morgigen …
MEGER VOHN: Dass am morgigen!

Der Handlanger atmete tief durch. Nicht genug, dass er sich fühlte wie eine schlechte Zirkusnummer mit Papagei, der Papagei war auch noch schwer von Begriff.

HANDLANGER: Könnten sie bitte erst einen Satz abwarten, bevor sie mich wiederholen?
MEGER VOHN: Natürlich!
Der Handlanger atmete einmal tief ein und betont langsam wieder aus.

HANDLANGER: Dass am morgigen Abend, dem Weihnachtsabend …

Der Handlanger wartete.

HANDLANGER: Herr Vohn?
MEGER VOHN: Ich habe keinen Punkt gehört. Das war kein ganzer Satz.

Der Handlanger war kurz davor, handgreiflich zu werden, hielt sich jedoch eisern im Zaum. Als ob dieser Halbidiot die Interpunktion verstanden hätte.

HANDLANGER: Würden sie bitte dennoch wiederholen, was ich gerade gesagt habe?
MEGER VOHN: Sehr wohl. Äh, könnten sie gerade vielleicht nochmal…?

Es war zum die Wände hochgehen. Wäre schon bekannt gewesen, dass Aufregung extrem schlecht für den Blutdruck ist, hätte sich der Handlanger jetzt wahrscheinlich Sorgen um seine Gesundheit gemacht.

HANDLANGER: Dass - am morgigen Abend. DEM. WEIH-nachts-abend!
MEGER VOHN: DAS AM MORGIGEN ABEND DEM WEIHNACHTSABEND
HANDLANGER: Sich um fünf Uhr eingefunden wird, um das Volk zu besuchen.
MEGER VOHN: SICH UM FÜNF UHR EINGEFUNDEN WIRD UM DAS VOLK ZU BESUCHEN.
HANDLANGER: Bitte bringt Mäntel und feste Schuhe, eventuell einen Esel oder wenn ihr habt ein Pferd. Frohe Weihnachten.

Damit verließ der Handlanger das frustrierende Szenario, Meger Vohn hörte er noch, als er seine Schlafgemächer erreicht hatte.

Handlanger ab, Meger Vohn verbleibt noch ein Weilchen auf der Bühne und erfreut sich nutzloser Sinnlosigkeiten.

1 Und erfand 13 Jahre später, nachdem die Monarchie endgültig abgeschafft und durch eine Diktatur ersetzt worden war und die Gänsezucht sowie der Springreitsport wieder aufgenommen wurden, das Megafon und wurde der reichste Mann der Welt. Und das, obwohl er seiner Zeit das Studium abgebrochen hatte.

Mittwoch, 10. Dezember 2014

Apocalypse in an empty theatre


Die Stimmen schweigen beharrlich und mit einer gewissen Penetranz in den Äther hinein. Irgendwie hat man gelernt, ihr Schweigen zu ignorieren und so zu tun, als wäre das Leben etwas ganz normales ohne sie, obwohl man natürlich weiß, dass es das nicht ist, dass es nicht normal ist, sein Leben in Uniräumen und Clubs zu verbringen, nicht, wenn man man selbst ist, nicht in diesem Dasein. Trotzdem funktioniert es momentan und es funktioniert ganz gut, auch wenn man spürt wie sie unruhig werden, die Stimmen, sie räuspern sich ein wenig nervös an guten, demonstrativ an weniger guten und einfach gar nicht mehr an schlechten Tagen. Let's face it, Schweigen ist scheiße, inneres wie äußeres; die Menschen müssen mehr kommunizieren, ob mit sich oder anderen sei jetzt mal dahin gestellt.
Die emotionale Sinuskurve schwingt, steil und mit unangenehmen Spitzen oben und unten versehen, immer wieder an den stummen Stimmen vorbei, hoch und runter, mehr runter als hoch. Ab und zu nimmt sie dabei ein paar willkürlich aneinandergereihte Worte mit und wirft sie aufs virtuelle Papier, manchmal auch auf echtes, lang lebe das unkaputtbare Analogicum, die Analogue Humanities freuen sich. Trotzdem - irgendwann wird man von innen heraus zerspringen, als sei man mit Porzellan ausgekleidet gewesen, zurück bleibt eine Schale, zäh vom Wind, aber jederzeit bereit, in sich zusammenzufallen, zu implodieren und sich in Rauch aufzulösen, man weiß es. Vielleicht sollte man über eine Pause nachdenken. Aber Weihnachten kommt, diese durchtriebene Kollaboration der Geschenkpapier-, Buch-, hässliche Krawatten-, Schokoladen- und Bildungsindustrie. Perfide. Bis dahin: weiteratmen und Frauenzeitschriften meiden; im Zweifel für das Katzenvideo (honestly, we need all the warm and fuzzy happiness we can get. Desperately. Anyone offering [asked the vultures and stopped gnawing on the leathery, dead bones that used to be their souls while looking up; eyes too wide and bloodshot; nervously twitching eyelids, pinkish rims above blueish rings]?).

Weitere Fakten, die zu beachten wären:
1) The unicorn is not a unicorn. It's a donkey with a plunger stuck to its face.
2) Ein voller Kühlschrank macht mich genauso nervös wie ein leerer.
3)Everyone knows how to talk, and no one knows what to say.

Im Folgenden lustige Anekdötchen zur Auflockerung und allgemeinen Erheiterung der Massen.


Anfang Dezember
Kapitel 1, die Neunzehnte

Man steht auf der Brücke über der Autobahn und sieht weißen und roten Lichtern beim Dasein zu. Pink Floyd untermalt den kleinen Ausflug mit einer Untertasse voller geheimer Dinge, an der man sich festhalten kann; an Geheimnistuerei und aufgesetztem Lächeln, man lebt aneinander vorbei, während keiner sagt, was er denkt, sondern stattdessen höflich zur Seite tritt; nein, natürlich ist das in Ordnung, darfs auch noch die andere Wange sein und vielleicht eine Extrascheibe für die lieben Kleinen?
Die Knie frieren von innen an der Strumpfhose fest. Wäre man obdachlos stünden die Chancen gut, in der Nacht draufzugehen. Ist man aber nicht. Auch wenn man manchmal den Eindruck hat, in der kosmischen Hackordnung nicht deutlich weiter oben zu stehen, man versucht es ja, aber irgendwas läuft da schief, mentale Obdachlosigkeit, vielleicht sollte man eine Petition starten oder wenigstens einen Häkelkurs belegen.
Das neue Leben ist knapp zwei Monate alt und schläft nicht durch. Man ist sich noch nicht ganz sicher, wie sehr man es mag, oder ob überhaupt - das heißt, nein, man mag es, wie man Kinder wohl mag, wenn sie selbst gemacht sind, man ist ja quasi verpflichtet. Und im Grunde wollte man das ja alles auch, nur manchmal ist es anders als man dachte. Trotzdem macht man weiter und irgendwie beugt man sogar der Instantdepression vor, meistens, die sich alle zulegen, die sich keine aus ganzen Bohnen leisten können. Im Großen und Ganzen aber ist es schon okay, man hält sich über Wasser, und das neue Leben wird ja auch irgendwann älter; zurzeit scheißt es noch recht viel und auch gerne an der Windel vorbei. Über kurz oder lang aber sollte sich das ändern, das Zahnfleisch ist ja auch eher schlechtes Gehwerkzeug, das wussten wir aber auch schon vorher. Also schieben wir Literatur zwischen uns und die Welt, um nicht daran verrückt zu werden (der Welt, that is) und das Man zwischen das Ich und den Text, um nicht über sich selbst zu sprechen (was man natürlich doch tut, wen wollen wir hier eigentlich verarschen). So richtig davon ablenken, dass man den Eindruck hat, auf der Stelle zu treten, kann das aber auch nicht. Stellt sich nur die Frage: hat man nur den Eindruck, oder ist dem wirklich so? Man weiß es nicht, man weiß es nicht. Was man weiß, ist dass sich die Einstellung stetig ändert und einen damit vermutlich recht effektiv daran hindert, Klarheit über irgendwas zu bekommen, seis jetzt Leben oder Studieren oder der übrige Mist, was bleibt da noch, weiß man auch nicht, irgendwas wirds schon sein, hofft man. Auch wenn man merkt, dass man eigentlich nichts anderes macht. "Leben" ist ja auch ein recht weit gefasster Begriff, das muss man schon zugeben, doch.
Vielleicht sollte man einfach aufhören, nachzudenken. Gelegentlich sortiert man die angesammelten Zettelwerke der vergangenen Jahre aus und findet immer wieder folgendes: a) Entscheidungsbäume. Und b) Erinnerungen an rare, klare Momente. Kürzlich unter besagter Rubrik gefunden: Don't think. Just DO.
Gesagt, nicht getan. Man ist sich vage darüber bewusst, dass sich nicht viel am Gesamtzustand ändern wird, wenn man jetzt sein Leben nimmt und über den Haufen wirft. Haben wir schon circa acht Mal getan, hat uns nie zum Menschen des Jahres gemacht. Sollte unterlassen werden. Sagt man jetzt.
Wäre doch aber so nett, sagt man dann morgen.
Oder vielleicht lieber doch nicht?, übermorgen.
Im Grunde ist es ja eigentlich ganz in Ordnung so wie es gerade ist. Letztendlich wird man nie das richtige finden, das perfekte. Und das weiß man eigentlich auch. Das sagt sogar die Literaturwissenschaft (na, dann ...).
Aber, aber! ruft das kleine Männchen im Hinterkopf und springt mit Anlauf und Elan mit den Füßen auf den Boden, stampft quasi stereo, und fuchtelt mit den Armen. Jajaja, sagt man und winkt ab. Irgendwie ist man über die Jahre zu müde geworden, um noch auf das Männchen zu hören, den Gnom, der nur darauf wartet, mal wieder so richtig einen drauf zu machen, wenn man gerade nicht hinschaut. Bevors uns noch zu wohl wird hier. Irgendwie hat man sich wohl doch entwickelt, auch wenn man es aus dem Moment heraus vielleicht nicht sehen kann (oder will). Es könnte ja doch durchaus sein, dass man ein, zwei Dinge richtig gemacht hat in seinem Leben. Die Masse der Dinge, die diesen zwei gegenüber stehen, wirkt aber immer noch so anheimelnd wie die Sohle des Wanderstiefels von unten auf die Ameisenkarawane wirken dürfte, man fühlt sich irgendwie fad und zäh wie alter Kaugummi. Du hast doch noch das ganze Leben vor dir! orakelt Omma demgegenüber und man ist sich nicht ganz sicher, ob man lachen oder weinen soll deswegen, und entscheidet sich dafür, beides gleichzeitig zu tun, leichte Schräglage zur Hysterie, was soll man da nur machen [Umziehen! Umziehen! kreischt das Männchen. Wir schweigen und nehmen einen wohl überlegten Schluck Wein.].
Vielleicht sollte man einfach ins Bett gehen. Oder mehr Wein trinken. Oder beides. Vielleicht sollte man sich nachts nicht auf Brücken stellen und dabei Pink Floyd hören (hey, sie lag auf dem Weg, ja). Vielleicht sollte man einfach mal aufhören, so viel nachzudenken, und einfach machen. Vielleicht kommen wir dann ja irgendwann wirklich zu Kapitel zwei.


Immer noch Anfang Dezember, später.
Mäandernde Gedanken running rampant.
Auch nachts sind Schäfchenwolken am Himmel, nur dunkler

Spätestens wenn man merkt, dass man sich selbst nicht mehr mag manchmal sollte man vielleicht mal über Reklamation nachdenken. Oder, Renovierung -

Glück ist, wenn man morgens aufsteht und weiß, warum.
Glück ist, wenn man morgens gar nicht erst aufstehen muss.
Glück ist, wenn man zu spät an den Bahnhof kommt und merkt, dass der Zug auch Verspätung hat.
Glück ist eine Flasche Rotwein.
Glück ist ein lieber Mensch, der tatsächlich freiwillig seine Zeit mit einem teilt und das, obwohl er bereits gemerkt hat, was für ein hoffnungsloser Weirdo man ist.
Glück ist, ein Dach über dem Kopf und genug Geld zum leben zu haben.
Glück ist -
zu merken, was für ein Glück wir eigentlich haben, diesen Mist hier lesen zu können, diesen Mist schreiben zu können, die Zeit zu haben, uns mit Unwichtigkeiten wie Blogs zu beschäftigen.

Glück ist der richtige Film zur richtigen Zeit, die richtige Musik im rechten Moment; Glück ist jetzt, ob ich es glaube oder nicht.
Glück ist, Dinge wieder tun zu können, die man bereits abgehakt hatte. Glück ist, jemanden zu finden, der mit einem weglaufen würde, um den Rest zu vergessen, nur nicht bleiben, gehen, ohne zu sagen, warum -

Glück ist - jetzt. Mehr als sonst, mehr als zuvor. Auch wenn man es nicht merkt, nicht wahrhaben kann oder will, nicht sieht, schmeckt oder riecht - hier, das ist Glück. When the lucky break hits it's like being Cinderella and hopefully midnight doesn't come.

Glück ist glauben ans Warum. Glück ist eine durchwachte Nacht in der Großstadt. Glück ist der Sonnenaufgang, der darauf folgt. Glück ist das Meer und der Verkehr, der an der Ampel steht, die Musik, die durch die Nachtluft hallt, Glück ist, ganz vorne an der Theke zu stehen und Glück sind Freunde, die einen auffangen, wenn das zu oft vorkam in einer Nacht. Glück ist der seltene Vogel, der sich auf deiner Schulter niederlässt, ein paar Takte in dein Ohr singt und weiterfliegt - Glück ist weglaufen und ankommen und wieder weiter gehen. Glück ist die Suche und nochmals die Suche; und wenn ich jemals behaupte, gefunden, gefunden, zu haben, dann schlagt mich, schlagt mich weich wie Kompott, denn niemand findet, niemand weiß - Glück ist die Unwissenheit und der Zweifel und die Aussicht auf mehr, mehr Leben, mehr Menschen, mehr Welt; denn nichts wenn nicht das spornt uns an, weiterzumachen.

Glück ist JETZT; Glück ist immer irgendwo, irgendwie. Nur meistens sieht man es nicht.

-

Die Sinuskurve. Vereinzelte Blätter hängen noch stoisch am Zweig und wehren sich aufmüpfig gegen das Fallen, sieben Stockwerke, wer kanns ihnen verübeln. Das Geschrei auf dem Fussballfeld ist abgeebbt, vielleicht kommen sie später wieder. Alles wird ganz leise und der Tee wird kalt.
Und ob ihrs glaubt oder nicht, die Dämonen, die an meinem Fenster kleben, wollen auch nur leben.

*salutes.



Dienstag, 14. Oktober 2014

Der Elfenbeinturm


Ich war mir ja immer bewusst darüber, dass in Tübingen ein besonderes Klima herrscht. Der raue Wind der breit schwäbisch giftenden Ökonazis, das nervenzehrende Geholper schmaler Fahrradreifen auf innenstädtischem Kopfsteinpflaster, die anstrengende Flut von Bioläden, die ganzen Kinder, das elitäre Gehabe des akademisch gebildeten Bürgertums, mit seinen Passivhäusern und Solarzellen auf dem Dach - ja, im Süden herrschen Verhältnisse, wie man sie sonst nicht kennt. In meinem Denken passte das Ganze am ehesten in die Rubrik 'hübsch, aber langweilig' und trieb mich bestenfalls in eine Richtung: weg.
Dann kam der Moment, in dem 'weg' tatsächlich Realität wurde und ich zog ein Stück nach Norden und Westen. Sagen wir, der Praktikabiliät halber, und weils so schön klingt, ich zog in den Wilden Westen, und hier bin ich nun, im Ruhrpott, Isa allein auf weiter Flur. Das heißt, allein mit den anderen 5,1 Millionen Menschen, die sich hier die Zeit mit Leben vertreiben und dabei gelegentlich ein Bier trinken gehen. Also nicht völlig allein. Eigentlich weit weniger allein als im mit Kernseife bioweich gespülten Tübingen, dessen Stadtkern gut auf den Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs passen würde, mit Luft an den Rändern. Und das ist auch gut so -'alle Wege führen nach Rom' kann in Tübingen ohne Probleme zu 'alle Wege führen auf die Wilhelmstraße' abgewandelt werden und wäre damit zu 100% richtiger als das ursprüngliche Sprichwort. Hand in Hand mit den geographischen Finessen dieses adretten, grünen Örtchens gehen aber auch die Einwohnerzahlen: die Gesamtzahl aller Tübingen entspricht nicht einmal zwei Prozent der Einwohner oben genannter Agglomeration, in der ich nun meine Zelte aufgeschlagen und die Kamele zum tränken an den Teich geführt habe. Was sagt uns das jetzt? Zum einen, dass man hier wohl nicht mehr abends in der Kneipe den amtierenden Oberbürgermeister treffen wird, der einem mit Lächeln im Gesicht und Muse für seine Arbeit und sein Städtchen im Kopf ein Kondom in die Hand drückt, das offensichtlich eigens zu diesem Zwecke gefertigt, verpackt und bedruckt worden ist (Wahlkampf, Freunde, Wahlkampf. Ich habe nicht mein Metier gewechselt. Zumal ich in diesem speziellen Beruf in Tübingen mit größter Wahrscheinlichkeit ohnehin arbeitslos gewesen wäre). Zudem, dass ich scheinbar eine Obsession mit möglichst großen Ansammlungen wohnender Menschen habe, ungeachtet dessen, was sich daraus so ergibt.
... Ungeachtet dessen, wirklich, Isa?
Fakt ist, seit einer Woche fühle ich mich ein bisschen wie Marshall Eriksen, kurz nach seinem Umzug aus dem beschaulichen Middletown, Connecticut nach New York City. Zugegeben, richtig Manhattan ist Essen nicht. Nichtmal mit viel gutem Willen, und das behaupte ich jetzt einfach mal, ohne je in Manhattan gewesen zu sein (dafür mit viel Passivwissen aus diversen TV-Shows ...). Trotzdem steht man, als jahrelanger Tübinger, auf einmal da und sieht sich mit der ganzen Überforderung konfrontiert, die das Jonglieren von Bussen, S-Bahnen und U-Bahnen mit sich bringt. Man zieht es nach einigen Tagen ernsthaft in Erwägung, dem Gott Google Maps einen Schrein zu errichten und ihm täglich zu huldigen, damit er einen ja nie im Stich lasse, was effektiv einem Todesurteil durch Verdursten in der nicht zu navigierenden Betonödnis der endlosen, aneinanderklebenden Städte dieses unseren Potts gleichkäme. Ein wenig ausgeufert, das Ganze. Kurzum, man fühlt sich wie ein Landei in der Großstadt, und wenn man ehrlich zu sich ist, dann ist man das in diesem Moment auch. Ob du vorher in München oder Wien gelebt hast interessiert nicht. Bombay, Dublin? Vergessen. Was zählt, ist dass die Fahrradwege spärlich, die Strecken weit und die Menschen irgendwie ... rau sind.
Raus aus dem Elfenbeiturm also und rein in U-Bahn-Schächte, in denen sich Halbbetrunkene anpöbeln und auf ihrem Weg zur völligen Betrunkenheit gegenseitig an die hundeurincharmanten Kachelwände schubsen, nachmittags um zwei. Rein in eine Innenstadt voller Punks, ein Phänomen, das man in seiner rundum versorgten und behüteten Zeit im wohligen Land des Bioterrors beinahe vergessen hatte. Und rein in eine Stadt, in der man sich nachts auf dem Nachhauseweg wieder Gedanken darüber macht, ob es wirklich ratsam ist, bestimmte Straßen alleine zu durchqueren.
Wir sehen also, es ist nicht mehr weit, bis ich meinen Marshall-Knüppel auspacke und mit gehetztem Blick um die Häuserecken schleiche (für alle, die es immer noch nicht zuordnen können: How I Met Your Mother, series 4, episode 2). Ob ich dabei den best burger in Essen ausfindig mache sei jetzt mal dahingestellt. Was sich mir jedoch aufdrängt (und da schließt sich der Kreis zu unseren New Yorker TV companieros) ist, dass ich, Burger hin oder her, vermutlich in ein paar Monaten über mich selbst lachen werde. Ein paar Assis am Bahnhof, Punks in der Fuzo, nächtliches Unwohlsein auf dem Heimweg, gibts eigentlich was Normaleres auf der Welt? Ist nicht irgendwie die kopfsteingepflasterte und strategisch begrünte Sicherheitszone Tübingen das viel Abnormere in unserem Vergleich hier?
Vermutlich schon. Glaubt man einschlägigen Zeitungen ist Tübingen die grünste Stadt Deutschlands. Ökologisch korrekt und Assi-bereinigt wird sie in ihrem in Recyclewatte gepackten Spießbürgertum untergehen und mit größter Wahrscheinlichkeit noch nicht mal den Anstand haben, sich dafür zu schämen. Und im Grunde, warum auch? Tübingen ist ein Unikum, sehr schön und sehr selten, und wer sich darin wohl fühlt, der hat den Jackpot gezogen auf den beschaulichen Wegchen entlang des Neckars, mit all seinen bunten Fachwerkhäusern, die sich in Jahren auf ihren ziegelgedeckten Buckeln wohl mit Yoda selbst messen können. Und wers nicht tut - der zieht eben weg und verfasst hinterher Texte, deren Sinn und Zweck nicht nur dem geneigten Leser an dieser Stelle ein wenig verschleiert erscheinen. Ich wollte doch raus, ich wollte doch in die Großstadt; vermisse ich diesen obskuren heile-Welt-Flecken Erde etwa?
Vermutlich - jain. Ich vermisse die Möglichkeit, alles in fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad zu erreichen. Und ich vermisse die ganzen Orte, die man zu seinen eigenen gemacht hat über die Jahre, die Bücherei (jaja, steinigt mich), den Bäcker, bei dem man sich so oft seinen Kaffee gekauft hat, dass man das Geld schon immer passend hatte. Ich vermisse meine Uni, an der ich mich im Dunkeln und mit geschlossenen Augen zurecht gefunden hätte. Ich vermisse nicht, hingegen - den miefigen Kleinstadtflair, der mit hübscher Bepflanzung, netten Radwegchen und einer Kinderinvasion, als gäbe es kein demographisches Problem, kommt. Ich vermisse nicht die Tatsache, dass es selbst ich in Tübingen am Ende nicht mehr geschafft habe, mich zu verlaufen. Ich vermisse nicht, dass Tübingen hübsch ist, aber beschränkt, dass man nach Stuttgart fahren muss, um sich einen Film auf Englisch anzuschauen, dass die elitären Bildungsbürger zwar gebildet sein mögen, aber trotzdem nicht  wirklich über ihren Tellerrand zu schauen scheinen.
Ich könnte die Liste jetzt wahrscheinlich noch ewig so weiterführen. Fakt ist - Tübingen ist schön, hier ist es anders. Endgültige Qualitätsurteile über Dinge, deren Beurteilung auf subjektiver Empfindung basieren abzugeben ist wohl ohnehin Schwachsinn. Was ich weiß ist, dass mich das Donnern der einfahrenden U-Bahn glücklich macht. Dass mich der riesige Campus glücklich macht. Dass ich mich durchaus mit dem Gott Google Maps arrangieren könnte, obgleich ich weiß, dass eben jener in ein paar Monaten auch ausgedient haben wird. Und und und. Wieder eine endlose Liste. Abschließen lässt sich das Ganze jetzt wohl nur mit der so völlig unkontroversen Akzeptanz, die man sich wahrscheinlich irgendwann aneignen sollte, wenn man dazu neigt, regelmäßig seinen Wohnort zu wechseln: jeder nach seiner Facon, und die Definition von 'Elfenbeinturm' ist wohl auch eher individuelle Angelegenheit. Am ehesten ists wohl einfach überall schön, wenn man es sich schön macht - freie Werbekondome hin oder her. Der Wahlkampf ist ja auch irgendwann mal vorbei.

Dienstag, 7. Oktober 2014

Erste Male (oder: Letzte Male II)

[Ich verspreche hoch und heilig, irgendwann auch mal wieder über was anderes zu schreiben]

Der erste Abend allein in der neuen Wohnung und wir üben uns im meditativen Kistenauspacken bei Handylicht. Die Sicherungen scheinen den gleichzeitigen Anschlag von Wasserkocher und Netzteil nicht verkraftet zu haben und haben sich verabschiedet, der Sicherungskasten ist selbstredend unauffindbar; zudem regnet es (nein, das Dach ist dicht). Der Einstand in der neuen Stadt scheint also ein ganz großer zu werden – duschen wird aus Beleuchtungsgründen im wahrsten Sinne des Wortes vertagt, die drei noch funktionstüchtigen Steckdosen in der Küche müssen ökonomisch eingesetzt werden, jede Bewegung vervielfältigt sich im Hall der leeren Wände. Man kennt niemanden in der Stadt. Die Leute reden mit komischem Dialekt und man fühlt sich fremd, ohne Ortskenntnis, ohne Zuflüchte, ohne Freunde, die abends mit einem am Küchentisch sitzen und einem sagen ist doch gar nicht so schlimm.
Es wäre so leicht, zu verzweifeln. Sich hinzusetzen, im dunklen Bad auf den Boden, und zu heulen, verwischte Mascara sieht ohnehin keiner, erstens gibt es kein Licht; zweitens ist keiner da. So leicht.
Weggehen ist schrecklich schön. Erschreckend beängstigend und wunderbar. Das wusste schon Hesse, auch wenn wir das totgeleierte Gedicht jetzt nicht zur Rate ziehen werden. Trotzdem hat er recht. Wir bewegen uns voran und wandeln uns kontinuierlich; manch einer tut das, indem er sich physisch bewegt, seine Habseligkeiten in alte, marode gewordene Kisten sperrt und hunderte von Kilometer durchs Land karrt, andere brauchen den eigentlichen Weg nicht und gehen ihn im Kopf. Beides kann einen vermutlich an den Rand der Verzweiflung bringen, darüber hinaus und hinein in den nächsten Abschnitt, und beides sollte man vermutlich nicht alleine machen.
Und trotzdem sitze ich hier alleine in meiner Wohnung und höre mir selbst beim Tippen zu. Das Auspacken hat man aufgegeben zugunsten von Keksen; man beobachtet den Mond, derselbe wie immer, der, den man schon vor zwei, vor fünf, vor zehn Jahren angeschaut hat. Dessen Gesicht einem immer mehr wie ein Schrei als ein Lachen vorkommt, auch wenn man sich jede erdenkliche Mühe gibt, zu tun als wäre es anders. Mit dem man in langen Nächten geredet hat, hallo, Mond, da oben. Wäre schön, wenn mir jemand zuhört.
Was also hält einen davon ab, sich vor dem Klo in die Hocke zu lassen und sich selbst zu bedauern, sich zu fragen, warum um alles in der Welt man seinen sicheren, nestwarmen Hafen zurückgelassen hat im Tausch gegen eine große, graue, fremde Stadt? Die Kekse sind es nicht (zumindest nicht nur). Der Mond hat auch noch nie geantwortet, auch wenn man ihn noch so lang und vorwurfsvoll anstarrt. 
Ich glaube, es sind gerade Abende wie heute. Genau das, was einen verzweifeln lassen kann, kann einen auch retten. Weggehen ist schrecklich, aber es ist auch schön – und dunkle Nächte in hallenden Wohnungen sind genau dasselbe. Nie fühlte sich das Leben mehr nach Verlust und Versprechen, nach absoluter Einsamkeit und unendlichen Möglichkeiten an wie an dieser Schwelle zwischen alt und neu. Nie sind die Nerven so gespannt wie in den Momenten, in denen man alleine aus einem Flugzeug steigt, fünftausend Kilometer von zuhause, bewaffnet nur mit einem zehn Kilo Rucksack. Nie ist man so verzweifelt wie in den Zeiten, in denen man niemanden bei sich hat, auf den man sich verlassen kann – und gleichzeitig ist man nie so stark und so offen für neue Menschen. Nie fühlt man sich so fremd so und zuhause gleichzeitig wie ein einem neuen Zimmer mit kahlen Wänden, vor denen sich die alten Kisten mit denselben Büchern wie vor fünf Jahren stapeln, während der Mond, rund und unveränderlich, durchs Fenster scheint und einen daran erinnert, dass es nicht vorbei ist; es fängt gerade erst an.
Ich sitze jetzt hier und tippe anstatt heulend auf dem Boden zu hocken, weil mein Handy mich seit Tagen daran erinnert, dass ich über unsere letzte WG Party schreiben wollte. Dass ich davon schreiben wollte, wie sehr letzte Male mir an die Nerven gehen, wie leicht ich komplett die Kontrolle verliere beim simplen Gedanken daran, dass ich etwas zum letzten Mal tue. Und wie sehr ich genau diese Situationen trotzdem immer wieder suche, wie sehr ich mich dafür verfluche, und wie sehr ich letztendlich darin aufgehe, neu zu beginnen. Wie melancholisch-schön letzte Male, und wie beängstigend-schön erste Male sind. Wie sehr ich meine Vergangenheit jetzt schon vermisse und wie sehr ich mich auf meine Zukunft freue – und wie sehr ich eigentlich gewillt bin, beides zu vereinen.
Wer sagt mir, dass letzte Male letzte Male sind? Erste Male vergehen schnell, aus ihnen werden zweite und dritte, siebte und hunderte Male, und dann werden sie zu letzten Malen. Aber warum? Warum sollen die Dinge, die einem im Hals stecken bleiben, wenn man sie plötzlich ein letztes Mal tut, wirklich nie wieder kommen? Die Sachen, die einem runtergehen wie sonst auch, die man schluckt, vergisst und ausscheidet und erst Jahre später merkt, sie nie wieder gesehen zu haben, die waren es nicht wert, vermisst zu werden. Die, die einem kantig in der Kehle kratzen und schwer im Magen liegen, das sind die Dinge, an denen man sich aufhalten kann, und die man versuchen soll, am Rockzipfel zu erwischen, sie bei sich zu halten, und sei es noch so locker. Letzte Male, die es wert sind, sind nicht das Ende, sie sind der Anfang; dieselben Spieler, andere Regeln.
Alles Neue wird irgendwann alt. Das Gute bleibt, das weniger Gute kommt auf den Sperrmüll. Aber aus den Momenten, Ideen, Menschen, die wir behalten, und dem, was im ständigen Wandel immer neu dazukommt, daraus machen wir uns selbst. Aus all den WG Parties, die wir gegeben haben, aus all den Menschen, die wir in der Ferne aufgesammelt und für gut befunden haben, aus all den zurückgelassenen Hausschlüsseln, den leeren Zimmern, die hinter uns liegen und denen, in die wir gerade erst einziehen. Wir sammeln Einzelteile ein und setzen sie zusammen, und alle sind zu irgendetwas gut, auch die lichtlosen Nächte in neuen Wohnungen. Auch die nagende Frage, warum man gegangen ist. Warum man eigentlich immer wieder alles über den Haufen wirft.
Weil letzte Male kein Ende sind, sondern ein Anfang, deswegen.

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Letzte Male


Und wieder hat man sich zwei Monate in Schweigen gehüllt.
Die letzten acht Wochen waren das emotionale Äquivalent einer Bergetappe während der Tour de France, es geht bergauf und wieder bergab, und wieder bergauf ... und irgendwann brennen die Muskeln und man ist sehr versucht, einfach abzusteigen und sich an den Straßenrand zu setzen, aber jedes Mal, wenn man kurz davor ist, schreit einen sein kleiner, interner Udo Bölts an, "Quäl dich, du Sau!" und man quält sich und macht weiter, so wie Jan Ullrich auch weitergemacht hat. Natürlich wissen wir inzwischen, dass der gute Ulle gedopt war und Udo ganz genauso, aber das schweigen wir staubig und kehren es unter den Teppich, sonst kommen wir ja nie ans Ziel. Stattdessen: quäl dich, du Sau. Dann gewinnste auch die Tour.
In jedem Fall. Das Quälen ist inzwischen vorbei, die Thesis ist abgegeben (ja, das war das Stichwort, aufzustehen und in frenetische Standing Ovations zu verfallen), der Job und sonstige Unannehmlichkeiten auch. Tatsächlich ist man gerade für eine Woche einfach nur frei. Und da das den unumstößlichen Gesetzen des Universums zu entsprechen scheint, verfällt man, sobald der Kopf nicht mehr mit dringlicherem Beschäftigt ist, in seinen Grübelmodus und grübelt seine frischegefangene Freiheit tot, wo kämen wir denn da auch hin. Man grübelt, ob es die richtige Entscheidung war, zum Master 500 Km weit weg zu ziehen. Man grübelt, warum einem am Telefon mit den eigenen Eltern zunehmend schneller der Gesprächsstoff ausgeht. Man grübelt, ob in Kinderschokolade Gluten enthalten ist, ob der Sommer jetzt endgültig vorbei ist, ob man Freunde je wieder sieht und ob man nicht vielleicht schon mal wieder in den Startlöchern zum nächsten Sprint weg von sich selbst und seinem Leben ist, denn ja! Am anderen Ende der 500 Km Sprintstrecke ist man natürlich jemand anderes, jemand, der keine Kinderschokolade zum Frühstück isst (und sich nebenher Gedanken über besagten Glutengehalt macht), der sich nicht im Zweijahresrhythmus die Haare schneidet, obwohl man sehr gut weiß, dass man es nach spätestens einer Woche bereuen wird; jemand, der alles in allem einfach weniger man selbst und mehr eine optimierte Version davon ist. Und da individuelle Optimierungsprozesse natürlich, wie jeder weiß, durch Kisten packen und weit weg ziehen in die Wege geleitet werden, macht es selbstredend auch total viel Sinn, nach Jahren, die einen eigentlich eines Besseren belehrt haben sollten, wieder in alte Muster zu verfallen und ... umzuziehen.
Und nicht mal eine Woche vor dem großen Happening sitzt man dann also an seinem Schreibtisch und fragt sich, was zur Hölle man da eigentlich tut. Ist man nicht eigentlich ganz zufrieden gerade mit dem Stand der Dinge? Hätte man sich nicht auch einen adäquaten Master weniger weit weg suchen können? Gibt es nicht eigentlich auch hier größere Städte, in die man stattdessen hätte ziehen können, wenn man es schon nicht mehr in seinem besseren Dörfchen aushält, in dem man die letzten drei Jahre zugebracht hat? Ja und ja und ja (und ja?). Trotzdem tut mans. Und eigentlich ist es jetzt auch zu spät, sich darüber noch Gedanken zu machen.
Manchmal fragt man sich, ob man jemals aufhören wird, sich selbst im Weg zu stehen. Ob man sich irgendwann mit dem Konzept des Glücklichseins wird arrangieren können, ohne, sobald man merkt, dass es einem gut geht, sich schnell irgendeine Lebenskrise aus der Nase zu ziehen, um diesen zugegeben doch irgendwie bedrohlichen Zustand schnellstmöglich zu torpedieren. Glücklich kann ich nicht. Thanks for the tragedy, I need it for my art. Eigentlich wollte ich Kurt Cobain nicht zitieren, fühlt sich so teenage self-hatred an. Ah, what are you gonna do.
Ernüchternde Tatsache nun aber: tragedy hilft meiner art einfach null weiter. Die persönlichen Tragödien und kleineren und größeren Dramen machen mich extrem unproduktiv. Da ich aber unter unheilbarem Produktivitätszwang leide, vergrößert sich das Drama durch die Unproduktivität nur noch und dadurch wiederum ... wir sehen, hier handelt es sich um hervorragendes doom loop material. Viele Wege rein, keiner mehr raus. Heimtückisch.
Andererseits wiederum - wäre man denn zufriedener gewesen, wenn man alles, worüber man hier so schön theoretisch (keine Gefahr in wilden Hypothesen) philosophiert auch gemacht hätte? Wäre ich jetzt in irgendeiner anderen Situation, wenn ich nicht weggehen würde, wenn ich weniger weit weg gehen würde, wenn ich mich einfach mal nicht am glücklich sein hindern würde?
Wäre man denn wirklich glücklicher, wenn wieder alles anders wäre?
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass bei der Überlegung dieselben Prinzipien am laufen sind wie bei denen, die mich immer wieder umziehen lassen: wenn alles anders wäre, dann wäre alles besser. Wenn ich meinen Status quo radikal über den Haufen werfe, wird alles gut. Dann wird das zu gruslig, nimmt zu echte Züge an, und eine neue Lösung muss her. Wenn ich meine Entscheidung, meinen Status quo radikal über den Haufen zu werfen, revidiere, wieder alles anders mache, dann wird wirklich alles gut, ganz sicher [aufatmen, nochmal Glück gehabt]. Dass ich damit zurück auf Null bin und faktisch nichts geändert habe, wird ignoriert, man verwirre mich nicht mit Fakten! Ich will in meinem emotionalen Sumpf bleiben und mich selbst bedauern, armes Kind, armes Kind, was ham dir die Leute nur anjetan. Tja, nichts, eigentlich, in der Regel nehme ich das selbst in die Hand, aber wie gesagt: nicht so viel Realität, bitte, mir ging es gerade gut.
Was schließen wir daraus (gut, was schließe ich daraus, ja. Die Tatsache, dass ich ein narzisstischer Selbstreflektierer bin heißt ja nicht, dass ihr da mitziehen müsst ...)? Wir schließen, dass es irgendwie aussichtslos ist. Oder, dass die Wege aus meinem Kreisel, in dem ich mich zu drehen scheine, andere sein müssen als die, die ich in der Regel in Betracht ziehe. Bleibt nur die Frage, welche das dann wären, denn allem Anschein nach bin ich da ja nicht so gut informiert. Vielleicht sollte man aber wirklich am Kernpunkt ansetzen: man geht, obwohl man bleiben will, aber trotzdem gehen will, weil einen im Grunde beide Möglichkeiten verrückt machen. Man versucht, seine Brücken hinter sich abzufackeln und baut gleichzeitig neue, um ja keinen Erfolg zu haben mit dem Unterfangen Brückentod. Man hat Angst, verlassen zu werden - deswegen geht man, ehe es die anderen tun können.
Aha.
Was aber, wenn die anderen das gar nicht wollen? Wenn eigentlich im Grunde niemand die Absicht hatte, einen alleine zu lassen? Was dann, hm?
Dann müsste man sich tatsächlich mit der Idee des Bleibens auseinandersetzen. Müsste den fiesen Tatsachen ins Augen sehen, die da heißen keiner will dir etwas Böses (wir gehen jetzt mal davon aus, dass keine religiösen Fundamentalisten mitlesen, die den Sprengstoffgürtel schon akkurat umgeschnallt haben und nur darauf warten, sich in Kürze vor meiner oder eurer Haustür in die Luft zu jagen). Keiner will dir den Lutscher vor die Nase halten und dann ätsch-bätsch sagen und ihn wieder weg ziehen, kaum dass man den Glutengehalt von Lutschern gecheckt und dann die informierte Entscheidung für das Lutschercraving getroffen hat. In der Regel, zumindest. Sollte man meinen.
Trotzdem ist es nun aber so, dass man geht. Man weiß auch nicht, ob man wirklich bleiben wollte, oder ob momentan nur die Panik aus einem spricht, und einem Ideen in den Kopf setzt, deren Sinnhaftigkeit man noch nicht voll durchschaut hat. Und selbst wenn es so wäre, wenn man eigentlich bleiben sollte - man kann ja wieder kommen. Und tatsächlich sind eigentlich auch 500 Km nicht so weit, relativ betrachtet. Und würde man nicht gehen, man könnte viele Dinge nicht so schätzen, wie man es tut, eben weil man geht. Das Weggehen, das am persönlichen Horizont hängt wie die klischeehaft metaphorischen Gewitterwolken, lässt einen viele Dinge in einem anderen Licht sehen (auch wie die klischeehaft metaphorischen Gewitterwolken ...). Das Vorzeichen "letztes Mal" macht vieles anders, ein bisschen melancholisch, aber gut melancholisch. Man weiß, was man hat, wenn man merkt: das wars jetzt. Das war das letzte Mal, und eigentlich ist es auch ein bisschen schade. Bei anderen Dingen ist es mehr als ein bisschen schade, bei manchen ist es traurig. Aber dann kann man sich ja wieder vor Augen führen, dass einem keiner den Lutscher wegnimmt, nur weil man umgezogen ist, man nicht als Aussätziger geächtet wird, nur, weil man in einem anderen Bundesland lebt. Und dass es verdammt nochmal Züge gibt, die einen von einem Ort an den anderen bringen, und wenn sie dafür 500 Km fahren müssen. Dass man nicht immer vor sich selbst davonläuft, nur weil man läuft. Dass man eigentlich weiß, dass man ohne die gesammelten Sprints der letzten neun Jahre nicht der wäre, der man geworden ist, und den man eigentlich inzwischen ja doch ein bisschen mag (Kinderschokolade hin oder her).
Man läuft vielleicht nicht immer vor sich davon, sondern hinter sich her. Vielleicht holt man sich ja irgendwann ein.
Amen.

Dienstag, 22. Juli 2014

Tick Tack


Ten years have got behind you, no one told you when to run, you missed the starting gun -
So you run and you run to catch up with the sun but it's sinking, ...*

In fünf Monaten ist Weihnachten. Gerade eben erst bin ich nach Irland geflogen, jetzt ist es beinahe schon wieder ein Jahr her, dass ich in den Flieger gestiegen bin.
Nächstes Jahr werde ich 30. Freunde, die heiraten, sind keine Seltenheit mehr. Kinder wohl nur eine Frage der Zeit.
Eine Frage der Zeit ...
Mit sieben erschien der Vormittag unendlich lang, bis man endlich mittags um eins seine Freunde zum spielen hat treffen können. Mit sechzehn war eine Doppelstunde Mathe und das Warten auf den freitäglichen Tanzkurs das langwierigste und quälerischste Folterinstrument der Welt. Dann wird man zwanzig und dann achtundzwanzig - und immer wieder verändert sich alles, man sieht die Welt aus anderem Winkel, und die Zeit vergeht schneller. Und schneller. Und schneller.
Irgendwann fragt man sich: wenn das so weiter geht, komme ich noch dazu, alles zu tun, was ich tun wollte? Was war das gleich nochmal? Habe ich noch genug Zeit, eine Liste zu schreiben? Ist es schon an der Zeit für die Bucket List, oder kann ich vorher noch kurz aufs Klo? Dauert auch nicht lang.
Das tut das Leben auch nicht. Muss ein himmlischer Witz sein. Bin gleich wieder da, werde schnell wiedergeboren und bring ein weiteres Leben hinter mich - dauert nicht lang. Ja, haha, ich lache. Aber wo sie recht haben, achtzig bekackte Jahre sind bekackt wenig. Und eigentlich überhaupt nicht bekackt - so man den Startschuss nicht verpasst.
And you run and you run ...
Kann man alles aufholen? Kann man verpasste Dinge nachholen wie versäumte Vokabeln in der letzten Stunde oder Alkoholeinheiten, die einem die anderen voraus haben, wenn man später zur Party kommt?
Hm. Da scheiden sich die Geister wohl mal wieder mit Begeisterung, in etwa wie beim Schlaf nachholen. Wissenschaftler sagen, geht nicht, ich sage, geht wohl (tja, wem glaubt man da jetzt. Schwierig, ich weiß ...). Und genauso sage ich auch hier: geht wohl. Wem nicht erst mit 79 einfällt, dass er mit 80 gerne promoviert wäre, vorher aber erstmal die Hochschulreife machen müsste, der kann wohl nachholen, was bislang vielleicht verpasst wurde (und selbst was realistisch nicht mehr erreichbar ist - der Wille zählt! Realismus wird sowieso furchtbar überbewertet). Man muss es nur tun, was wahrscheinlich die größere Herausforderung ist.
Meine Oma ist mit 82 (oh Gott - glaube ich ...) Jahren gestorben, und hat, so zumindest das Hörensagen, mindestens seit meiner Geburt in regelmäßigen Abständigen unheilvoll verkündet, das doch sowieso nicht mehr zu erleben (was auch immer, lasst euch was einfallen. Den nächsten guten Sommer [hier wiederum, wenn man meiner Mutter glaubt, dann lag sie damit richtig, meine Oma]? Den ersten schwarzen Präsidenten Amerikas? Ein Oscar für DiCaprio? Man weiß es nicht). Mit der Einstellung wird das nichts, nein. Jetzt ist sie ohnehin tot, von dem her brauchen wir das jetzt auch nicht mehr krümelig reden, aber das Prinzip bleibt ja bestehen. Wer mit 65 beschließt, Opernsänger zu werden, obwohl er bislang hauptberuflich Hemden gebügelt hat - der solls doch tun! Und sich nicht davon abhalten lassen, was die anderen sagen. Was die Wahrscheinlichkeitsrechnung sagt. Oder der "gesunde Menschenverstand" (ohnehin ein bescheuerter Ausdruck, der hat einen schon von so vielen Dingen abgehalten, dieser Menschenverstand, gleichzeitig scheint er aber absolut nichts dagegen einzuwenden zu haben, andere Menschen aufgrund ihrer Religion umzubringen .... okay, nicht politisch werden Isa). In jedem Fall. Run, run, try to catch up with the sun - und wenn sie dir dann vor der Nase im Horizont versinkt und dabei vielleicht noch hämisch lacht, dann lach halt hämisch zurück. Immerhin hat man es versucht, und wer sagt einem denn, dass es dabei nicht auch geblieben wäre, hätte man seine Versuche vierzig Jahre früher gestartet?
Eben. Keiner. Nicht mal der gesunde Menschenverstand.
Mein Punkt ist also: Tut. Es.
Hört auf nachzudenken und fangt an, zu tun. Egal wie alt man ist, egal wie "die Umstände" gerade sind, egal, ob man glaubt, gerade Zeit zu haben oder nicht. Wer sich immer mit "keine Zeit" rausredet, der will ohnehin nicht. Denn wer will, der tut auch, auch wenn er keine Zeit hat (mal ehrlich - wir haben alle gleich viel Zeit. Es ist alles eine Frage der Aufteilung).
Also, nochmal für alle: wer sich das nächste Mal überlegt, gerne etwas zu tun, und dann sofort im erstbesten Nebensatz das aber feiert und sich hundert total plausible Ausreden einfallen lässt, weswegen es jetzt gerade nicht geht, die dann am besten selbst noch glaubt und dabei gestresst die Backen aufbläst und sein Gegenüber leidend anschaut - get a grip. Niemand steht uns im Weg außer wir selbst (in der Regel, wir gehen jetzt einfach mal davon aus, dass keine unterdrückten Farbigen aus dem Jahr 1800 mitlesen). Zur Motivation stelle ich mir gerne musikalisch unterlegte Szenen von mir selbst auf vor Standing-Ovations wackelnden Bühnen vor, oder mich auf einer hohen Klippe, Haare und weite Gewänder wehen im Wind (letzteres nenne ich den Lord of the Things), den Blick Caspar-David-Friedrich-Style in die am Horizont verblauende Ferne gerichtet, vielleicht mit Inception Soundtrack im Hintergrund. Ihr dürft euch alternativ natürlich auch die holde Jungfrau aus dem Turm rettend vorstellen, oder meinetwegen beim Eiskunstlauf Gold gewinnen sehen, was weiß denn ich. Wichtig ist, dass es getan wird, größenwahnsinniges Fantasieren ist eine hervorragende Motivation.
In jedem Fall. Es gibt kein zu spät, solange ihr nicht gerade röchelnd auf dem Sterbebett euer letztes Lüftchen raushaucht. Und selbst dann könnte man vielleicht noch einen Versuch starten. Ich meine, wer weiß? Letztendlich müssen wir Glück haben, mit fast allem, aber wer dem Glück keine Angriffsfläche bietet, der pisst sich doch von vorn herein selbst ans Bein (und ich habe mir sagen lassen, mit der Zeit stinkt das gewaltig). So denn - Hanging on in quiet desperation is the English way; die Engländer in Ehren, aber da mögen sie falsch gepolt sein. Und Pink Floyd mit ihnen.
The time is gone, the song is over -  thought I'd something more to say.

Dann tuts doch, bitte. Tut euch einen Gefallen und tut es.

Bye.

* Pink Floyd, Time.