Mittwoch, 1. Oktober 2014

Letzte Male


Und wieder hat man sich zwei Monate in Schweigen gehüllt.
Die letzten acht Wochen waren das emotionale Äquivalent einer Bergetappe während der Tour de France, es geht bergauf und wieder bergab, und wieder bergauf ... und irgendwann brennen die Muskeln und man ist sehr versucht, einfach abzusteigen und sich an den Straßenrand zu setzen, aber jedes Mal, wenn man kurz davor ist, schreit einen sein kleiner, interner Udo Bölts an, "Quäl dich, du Sau!" und man quält sich und macht weiter, so wie Jan Ullrich auch weitergemacht hat. Natürlich wissen wir inzwischen, dass der gute Ulle gedopt war und Udo ganz genauso, aber das schweigen wir staubig und kehren es unter den Teppich, sonst kommen wir ja nie ans Ziel. Stattdessen: quäl dich, du Sau. Dann gewinnste auch die Tour.
In jedem Fall. Das Quälen ist inzwischen vorbei, die Thesis ist abgegeben (ja, das war das Stichwort, aufzustehen und in frenetische Standing Ovations zu verfallen), der Job und sonstige Unannehmlichkeiten auch. Tatsächlich ist man gerade für eine Woche einfach nur frei. Und da das den unumstößlichen Gesetzen des Universums zu entsprechen scheint, verfällt man, sobald der Kopf nicht mehr mit dringlicherem Beschäftigt ist, in seinen Grübelmodus und grübelt seine frischegefangene Freiheit tot, wo kämen wir denn da auch hin. Man grübelt, ob es die richtige Entscheidung war, zum Master 500 Km weit weg zu ziehen. Man grübelt, warum einem am Telefon mit den eigenen Eltern zunehmend schneller der Gesprächsstoff ausgeht. Man grübelt, ob in Kinderschokolade Gluten enthalten ist, ob der Sommer jetzt endgültig vorbei ist, ob man Freunde je wieder sieht und ob man nicht vielleicht schon mal wieder in den Startlöchern zum nächsten Sprint weg von sich selbst und seinem Leben ist, denn ja! Am anderen Ende der 500 Km Sprintstrecke ist man natürlich jemand anderes, jemand, der keine Kinderschokolade zum Frühstück isst (und sich nebenher Gedanken über besagten Glutengehalt macht), der sich nicht im Zweijahresrhythmus die Haare schneidet, obwohl man sehr gut weiß, dass man es nach spätestens einer Woche bereuen wird; jemand, der alles in allem einfach weniger man selbst und mehr eine optimierte Version davon ist. Und da individuelle Optimierungsprozesse natürlich, wie jeder weiß, durch Kisten packen und weit weg ziehen in die Wege geleitet werden, macht es selbstredend auch total viel Sinn, nach Jahren, die einen eigentlich eines Besseren belehrt haben sollten, wieder in alte Muster zu verfallen und ... umzuziehen.
Und nicht mal eine Woche vor dem großen Happening sitzt man dann also an seinem Schreibtisch und fragt sich, was zur Hölle man da eigentlich tut. Ist man nicht eigentlich ganz zufrieden gerade mit dem Stand der Dinge? Hätte man sich nicht auch einen adäquaten Master weniger weit weg suchen können? Gibt es nicht eigentlich auch hier größere Städte, in die man stattdessen hätte ziehen können, wenn man es schon nicht mehr in seinem besseren Dörfchen aushält, in dem man die letzten drei Jahre zugebracht hat? Ja und ja und ja (und ja?). Trotzdem tut mans. Und eigentlich ist es jetzt auch zu spät, sich darüber noch Gedanken zu machen.
Manchmal fragt man sich, ob man jemals aufhören wird, sich selbst im Weg zu stehen. Ob man sich irgendwann mit dem Konzept des Glücklichseins wird arrangieren können, ohne, sobald man merkt, dass es einem gut geht, sich schnell irgendeine Lebenskrise aus der Nase zu ziehen, um diesen zugegeben doch irgendwie bedrohlichen Zustand schnellstmöglich zu torpedieren. Glücklich kann ich nicht. Thanks for the tragedy, I need it for my art. Eigentlich wollte ich Kurt Cobain nicht zitieren, fühlt sich so teenage self-hatred an. Ah, what are you gonna do.
Ernüchternde Tatsache nun aber: tragedy hilft meiner art einfach null weiter. Die persönlichen Tragödien und kleineren und größeren Dramen machen mich extrem unproduktiv. Da ich aber unter unheilbarem Produktivitätszwang leide, vergrößert sich das Drama durch die Unproduktivität nur noch und dadurch wiederum ... wir sehen, hier handelt es sich um hervorragendes doom loop material. Viele Wege rein, keiner mehr raus. Heimtückisch.
Andererseits wiederum - wäre man denn zufriedener gewesen, wenn man alles, worüber man hier so schön theoretisch (keine Gefahr in wilden Hypothesen) philosophiert auch gemacht hätte? Wäre ich jetzt in irgendeiner anderen Situation, wenn ich nicht weggehen würde, wenn ich weniger weit weg gehen würde, wenn ich mich einfach mal nicht am glücklich sein hindern würde?
Wäre man denn wirklich glücklicher, wenn wieder alles anders wäre?
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass bei der Überlegung dieselben Prinzipien am laufen sind wie bei denen, die mich immer wieder umziehen lassen: wenn alles anders wäre, dann wäre alles besser. Wenn ich meinen Status quo radikal über den Haufen werfe, wird alles gut. Dann wird das zu gruslig, nimmt zu echte Züge an, und eine neue Lösung muss her. Wenn ich meine Entscheidung, meinen Status quo radikal über den Haufen zu werfen, revidiere, wieder alles anders mache, dann wird wirklich alles gut, ganz sicher [aufatmen, nochmal Glück gehabt]. Dass ich damit zurück auf Null bin und faktisch nichts geändert habe, wird ignoriert, man verwirre mich nicht mit Fakten! Ich will in meinem emotionalen Sumpf bleiben und mich selbst bedauern, armes Kind, armes Kind, was ham dir die Leute nur anjetan. Tja, nichts, eigentlich, in der Regel nehme ich das selbst in die Hand, aber wie gesagt: nicht so viel Realität, bitte, mir ging es gerade gut.
Was schließen wir daraus (gut, was schließe ich daraus, ja. Die Tatsache, dass ich ein narzisstischer Selbstreflektierer bin heißt ja nicht, dass ihr da mitziehen müsst ...)? Wir schließen, dass es irgendwie aussichtslos ist. Oder, dass die Wege aus meinem Kreisel, in dem ich mich zu drehen scheine, andere sein müssen als die, die ich in der Regel in Betracht ziehe. Bleibt nur die Frage, welche das dann wären, denn allem Anschein nach bin ich da ja nicht so gut informiert. Vielleicht sollte man aber wirklich am Kernpunkt ansetzen: man geht, obwohl man bleiben will, aber trotzdem gehen will, weil einen im Grunde beide Möglichkeiten verrückt machen. Man versucht, seine Brücken hinter sich abzufackeln und baut gleichzeitig neue, um ja keinen Erfolg zu haben mit dem Unterfangen Brückentod. Man hat Angst, verlassen zu werden - deswegen geht man, ehe es die anderen tun können.
Aha.
Was aber, wenn die anderen das gar nicht wollen? Wenn eigentlich im Grunde niemand die Absicht hatte, einen alleine zu lassen? Was dann, hm?
Dann müsste man sich tatsächlich mit der Idee des Bleibens auseinandersetzen. Müsste den fiesen Tatsachen ins Augen sehen, die da heißen keiner will dir etwas Böses (wir gehen jetzt mal davon aus, dass keine religiösen Fundamentalisten mitlesen, die den Sprengstoffgürtel schon akkurat umgeschnallt haben und nur darauf warten, sich in Kürze vor meiner oder eurer Haustür in die Luft zu jagen). Keiner will dir den Lutscher vor die Nase halten und dann ätsch-bätsch sagen und ihn wieder weg ziehen, kaum dass man den Glutengehalt von Lutschern gecheckt und dann die informierte Entscheidung für das Lutschercraving getroffen hat. In der Regel, zumindest. Sollte man meinen.
Trotzdem ist es nun aber so, dass man geht. Man weiß auch nicht, ob man wirklich bleiben wollte, oder ob momentan nur die Panik aus einem spricht, und einem Ideen in den Kopf setzt, deren Sinnhaftigkeit man noch nicht voll durchschaut hat. Und selbst wenn es so wäre, wenn man eigentlich bleiben sollte - man kann ja wieder kommen. Und tatsächlich sind eigentlich auch 500 Km nicht so weit, relativ betrachtet. Und würde man nicht gehen, man könnte viele Dinge nicht so schätzen, wie man es tut, eben weil man geht. Das Weggehen, das am persönlichen Horizont hängt wie die klischeehaft metaphorischen Gewitterwolken, lässt einen viele Dinge in einem anderen Licht sehen (auch wie die klischeehaft metaphorischen Gewitterwolken ...). Das Vorzeichen "letztes Mal" macht vieles anders, ein bisschen melancholisch, aber gut melancholisch. Man weiß, was man hat, wenn man merkt: das wars jetzt. Das war das letzte Mal, und eigentlich ist es auch ein bisschen schade. Bei anderen Dingen ist es mehr als ein bisschen schade, bei manchen ist es traurig. Aber dann kann man sich ja wieder vor Augen führen, dass einem keiner den Lutscher wegnimmt, nur weil man umgezogen ist, man nicht als Aussätziger geächtet wird, nur, weil man in einem anderen Bundesland lebt. Und dass es verdammt nochmal Züge gibt, die einen von einem Ort an den anderen bringen, und wenn sie dafür 500 Km fahren müssen. Dass man nicht immer vor sich selbst davonläuft, nur weil man läuft. Dass man eigentlich weiß, dass man ohne die gesammelten Sprints der letzten neun Jahre nicht der wäre, der man geworden ist, und den man eigentlich inzwischen ja doch ein bisschen mag (Kinderschokolade hin oder her).
Man läuft vielleicht nicht immer vor sich davon, sondern hinter sich her. Vielleicht holt man sich ja irgendwann ein.
Amen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen