Montag, 20. Juli 2015

Mut zum Kontrollverlust


Erstaunliche Dinge sind geschehen in den vergangenen sechs Wochen. Nicht alles davon war schön, aber der Großteil zumindest richtungsweisend. Es ist eine seltsame Sache, dieses Leben, aber man wälzt sich trotzdem irgendwie jahrelang hindurch, und auf einmal stellt man fest, dass man eigentlich beinahe klar kommt, dass es irgendwie okay ist, und dass (und jetzt Obacht) man sich im Grunde ganz gut fühlt dabei.
Manch einer mag vertraut sein mit meiner Grundannahme, dass das Konzept des Glücklichseins ein Mythos und dementsprechend natürlich nur verächtlich unter hochgezogenen Augenbrauen beiseite zu wischen ist. Tatsächlich bin ich mir immer noch nicht ganz sicher, ob dauerhaftes Glücklichsein ohne konstante Alkoholzufuhr möglich ist. Worüber ich aber in den letzten Wochen eine geradezu bizarre Klarheit erlangt habe ist folgendes: man kann sich wohlfühlen, zufrieden sein und irgendwie Spaß am Leben haben, auch wenn man einfach lebt wie bisher. Klingt komisch, is aber so.
Es ist ein obskurer Moment, wenn man sich dabei ertappt, wie man einfach zufrieden ist, obwohl man sich in so viele Dinge hineinsteigern könnte, die mal wieder nicht so laufen, wie das ursprünglich angedacht war. Wenn man merkt, wie man sich zwar der suboptimalen Natur mancher Angelegenheiten bewusst ist und das auch liebend gerne ändern würde, es aber gleichermaßen akzeptiert, dass das eben gerade nicht geht. Außerordentlich ungewohnt.
Ich weiß nicht so wirklich, woran diese ganze höchst befremdliche Entwicklung liegt und rede mir ein bisschen ein, dass alles auf mein jetzt bereits sechs Wochen altes Veganexperiment zurückzuführen ist; andererseits kanns das allein auch nicht sein. Viele Bananen sind ja schon toll und so, aber das Leben steht und fällt nicht mit der Banane allein (man verkneife sich die Vielfalt der Sexwitzchen, die mit dieser Aussage mitgeliefert wurden).
Was also dann?
Ich habe die Hoffnung, dass das, was hier gerade passiert, eine normale Entwicklung ist, die sich "erwachsen werden" nennen könnte, sofern man in solchen ausgelutschten Terminologien herumpulen will. Wir setzen hier erwachsen jetzt mal nicht mit langweilig gleich, auch nicht mit eingefahren und unflexibel und dem allem, sondern eigentlich nur mit - hm. Vielleicht ein bisschen klüger als zuvor? Wie auch immer wir das jetzt definieren, vermutlich bleibt das ohnehin jedem selbst überlassen, in weniger als zwei Monaten werde ich dreißig - was, wie ich gerade feststelle, ausgeschrieben noch viel beängstigender wirkt als ausgesprochen. Anders betrachtet aber, wenn dreißig werden mit Zufriedenheit einhergeht, dann tue ich es liebend gerne.
Dann wiederum lässt sich natürlich nichts an einer Zahl festmachen. Die schwammige Klarheit, die ich nun in minutiöser Kleinstarbeit erlangt habe, und der ich immer noch nicht wirklich über den Weg traue, ist anderen vielleicht in die Wiege gelegt. Andere wieder nennen mich Esofreak und halten sämtliche Epiphanien meinerseits für Humbug. Letzten Endes ist das aber alles irgendwie egal; was zählt ist das Ergebnis und auf dem Weg vom Startschuss bis zum sich gut fühlen ist alles erlaubt, was keinen umbringt. Folgendes allerdings halte ich für eine gute Grundlage: Kontrolle ist eine Illusion. Eine schöne Illusion, aber eine Illusion nichtsdestotrotz.
So wirklich weiß sowieso keiner, was er tut. Keiner weiß irgendwas und am wenigsten was er will. Morgens klingelt der Wecker und man steht auf, abends geht man wieder ins Bett, schon wieder zu spät, wieder keine acht Stunden Schlaf. Dazwischen weißes Rauschen, durchsetzt von Kaffeepausen.
Ich habe die Theorie, dass sich die Menschheit in folgende zwei Gruppen einteilen lässt: die, die ihre Wohnungstür abschließen, statt sie nur ins Schloss fallen zu lassen, wenn sie morgens aus dem Haus gehen, und die, die dasselbe tun, wenn sie sich nachts ins Bett legen, aber nicht umgekehrt. Noch bin ich zu keinem befriedigenden Pauschalurteil gekommen, was welche Gruppe aussagt, aber ich gehöre zu letzterer, fürchte um Leib und Leben und verwirkliche meinen Kontrollzwang in luxuriösem Türverriegeln.

"Universum hier, Isa hier, alles, wo es hingehört. Ich denke nicht nach. Ich schlafe." *

Ich befinde mich im eigentümlichen Zustand unabänderlichen Unwissens. Tun wir alle. Traditionell ist Nachdenken die Waffe meiner Wahl und ein Mangel an Kontrolle meine größte Angst, also baue ich Scheinsicherheiten mittels Grübeln und versuche, das Unkontrollierbare durch Gedanken kleinzusortieren. Ich lege im Kopf Butterbrotpapier über alles und ziehe mit weichen Bleistiften Linien um Zusammengehöriges, dann beschrifte ich, kritzele einzelne Worte in die formlosen Blasen: Freunde. Uni. Bücher. Sonstiges.
Oft ist das in Ordnung. Manchmal aber läuft der Verstand ins Leere, steuert auf etwas zu und verliert es kurz davor aus den Augen, rennt daran vorbei und braucht ein paar Meter, um seinen Lauf abzubremsen und umzudrehen und dasselbe noch mal zu tun, in die andere Richtung. Manche Sachen entziehen sich dem Nachdenken und verunsichern damit. Werden unberechenbar wie die schwarze Spinne, die man jeden Moment an der weißen Wand erwartet, abends, kurz bevor man das Licht ausschaltet.
Dann traut man sich nicht, hinzusehen. Will man aber. Und wenn man es tut, dann will man die Störung wegüberlegen, geht aber nicht. Man kann sie noch nicht mal wegdiskutieren. Kann keine schlüssigen Argumente finden und läuft im Kreis.
Wo soll das nur alles mal enden, fragst du dich jeden Tag die angemessenen siebzehn Mal und schüttelst dabei langsam den Kopf. Wohin soll das nur alles mal führen! Optionen:
a) zu Rum und Ehre
b) siehe c)
c) in die Klappsmühle
d) [Lücken bitte mit Kreativem füllen]
e) Arbeitslosigkeit, Geldnot und einem fürchterlichen Dasein im Freien bei Regen
f) nichts davon, mit Milch

Das Problem an allem: Kontrolle.

Man wird es schrecklich leid. Werde in Zukunft nur noch existentialistische Lyrik verfassen. Beginne Unterfangen mit Googlesuche 'Haiku'.
Was also jetzt? Ikeamöbel zusammenschrauben brachte keine Erleuchtung (obgleich die Erfahrung, ein "selbsterklärendes" Regal aufzustellen, um es am Tag darauf wieder ab- und dann richtig nochmal aufzubauen durchaus therapeutisch war). Nach fünfminütigem Überlegen stellt man fest: mehr fällt einem nicht dazu ein. Nichts, was wirklich irgendetwas bringen würde oder Sicherheit gäbe oder sonst irgendwie gut wäre. Alle Kontrollnetze, die man seinem Leben und sich auferlegt, sind schlechte Imitate von schlechten Imitaten von irgendetwas, das man sich in monatelangem Nachdenken als Theoriekonstrukt im Kopf zurechtgelegt hat und das vermutlich auch nur dort funktioniert.
Wenn einer fragt, was wir tun; wir proben das Reenactment von Zombieland. Alternativen wären in der Wüste Sterne anschauen, gerne auch mit Weltraumteleskop, obwohl eventuell schwer umzusetzen. Oder auch in Südfrankreich am Strand liegen. Man sollte viel mehr in Frankreich an Stränden liegen, macht halt bloß keiner, vermutlich nicht mal die Franzosen.
Sinnig wäre jedoch:
Den Kontrollfreak sperren wir im Keller ein. Zumindest planen wir, es zu tun, sobald wir ihn vom Treppengeländer losgerissen haben, an dem er sich krampfhaft festklammert und in voller Lautstärke IHR SEID ALLE DEM UNTERGANG GEWEIHT! schreit, seit ungefähr einer Woche.
Klingt durchaus plausibel; alles weitere findet sich dann.

Wir sehen: hat man erst einmal akzeptiert, nie wirklich Kontrolle über irgendetwas zu haben, lebt sichs deutlich entspannter. Vielleicht ist das ja des Rätsels Lösung, vielleicht komme ich langsam zu dem Schluss, dass Entscheidungen nicht so wichtig sind, wie ich immer dachte, dass es "das Richtige" nicht gibt, und dass man sich sein Leben zur Hölle machen kann, indem man mit diesen Tatsachen nicht klarkommt - oder es eben lässt und stattdessen Wein trinken geht. Seit einer Weile plädiere ich irgendwie für letzteres, und habe außerordentlich viel Spaß daran. Es lebt sich ziemlich gut in diesem eigenartigen Zustand des Zufriedenseins. Jetzt nur versuchen, nicht in alte Verhaltensmuster zurückzuverfallen, denn ein bisschen fremd bin ich mir schon, momentan. Andererseits kann man auch mit Fremden Wein trinken gehen, dann lernt man sich erfahrungsgemäß schneller kennen als ohne (vielleicht liegt ja doch alles nur am Alkohol, wer weiß).

In diesem Sinne, cheers!

* Wolfgang Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe