Mittwoch, 19. Februar 2014

Eines Tages? Jetzt? Morgen?


Eines schönen Tages spürst du Türen, trittst sie ein, und glaubst kein Wort.*

Eines Tages wirst du erwachsen werden, wirst du einen Job bekommen, der tatsächlich die Miete zahlt, eines Tages wirst du denjenigen welchen finden, der bei dir bleibt, zumindest für länger als ein Jahr; eines Tages wirst du morgens aufstehen und zum Bäcker gehen, wo sie dich siezen und den Kindern vor dir in der Schlange, die eigentlich nur die Auslagen angaffen, aber im Grunde sonst nichts an der Theke verloren haben, wird gesagt werden "Lasst mal die Frau da durch" -  eines Tages wirst du erwachsen werden und du hast Verantwortung und Vernunft und möglicherweise eine Katze, die du zum Tierarzt bringst, und ein Auto, das du zum Autoarzt bringst, einen eigenen Telefonanschluss und Möbel.
Möbel.
Eines Tages ... eines Tages ist ein schöner Ausdruck, weil er folgendes impliziert: es ist nicht jetzt. Es ist eines Tages, und ob das morgen oder in einer Woche oder einem Jahr ist ist egal, denn es ist nicht jetzt sofort und dementsprechend unwichtig, denn man kann ja aus der Sicherheit des eines-Tages-Abstandes darüber philosophieren, kann Pläne schmieden ohne sich wirklich Gedanken darüber zu machen, wie man diese in die Tat umzusetzen gedenkt, denn sie sind ja nicht jetzt, sie sind - richtig, eines Tages.
Eines Tages werde ich meinen Master in London machen. Eines Tages werde ich mich probeweise an einem echten Beruf versuchen. Eines Tages werde ich sesshaft werden, eines Tages werde ich mit dem Masterplan anfangen, mit dem, was das "echte Leben" sein soll, mit dem vernünftig sein und dem allem. Jaja, irgendwann werd ich das schon tun, jetzt lass mich in ruhe, muss das ausgerechnet heute sein, ich muss Game of Thrones schauen. Ich muss Bücher lesen, ich habe so viele halb gelesene Bücher, deren penetrante Existenz durch meinen Kopf schleicht und immer mal wieder unangenehm anzüglich grinst, seitdem ich sie halbgelesen zur Seite gelegt habe, vor einem, zwei, fünf Jahren. Irgendwann werd ich das schon alles machen, oder wie sagte dieser lustige HipHoper mit der seltsam nasalen Stimme (und, ich glaube, Nena auch?) vor Jahren nicht, irgendwie fängt irgendwann irgendwo die Zukunft an. Ja, genau, alles nur nicht jetzt und hier.
Man lebt ein Leben in Hypothesen, in Möglichkeiten, in schönen Ideen und bunten Einrichtungsplänen, in Ikeaeinkaufsbummeln, bei denen man sich absolut alle Sofas anschaut, probesitztliegtsteht, und dann eine Müslischüssel kauft. Man lebt eigentlich gar nicht im diesem Jetzt, das man so eisern verteidigt, sondern in einer Vorstellung von dem, was danach kommen könnte. Irgendwie torpediert das ja ein bisschen die ganze Idee von "Gegenwart", aber immer noch besser, in einer hypothetischen Zukunft, als in der Vergangenheit zu leben, richtig?
Ganz genau. Absolut richtig und gut und wunderschön und ich mag meine Müslischüsseln! Und meine Kaffeetassen! Und meine ständig halb gepackten Kisten und meine Internetrecherchen bezüglich des nächsten Wohnorts und meine Hirngespinnste und wolkenhoch schwebenden Planungen bezüglich der nächsten zwei Monate/Stromrechnung/Weltrettung. Absolut! (Ist nicht nur Vodka, nein)
Und dann denkt man sich irgendwann, jetzt reichts doch aber auch irgendwie mal, oder? Und man fängt an, ernsthaft darüber nachzudenken, was nach dem Studium kommt. Nicht, dass man das bislang noch nie gemacht hätte. Aber zumeist, wenn derartige Überlegungen in der Vergangenheit aufkamen, gewälzt und durchdacht wurden, dann stellten sich in der Regel schnell gewisse depressive Verstimmungen ein, denen man aber effektiv durch Fernsehen/Umziehen/Studium abbrechen + neu anfangen entfliehen konnte. Womit natürlich das zugrunde liegende Problem nicht gelöst, sondern aufgeschoben worden war und sich über die Jahre dabei zu einem dicken, eingekrusteten Bodensatz entwickelt hat, den man jetzt nicht mal mehr mit Spüli und Stahlschwamm abkratzen kann. Nicht mal, wenn mans vorher eingeweicht hat.
Dann sitzt man also auf seinem Sofa, bewaffnet mit Kaffee und Laptop und stellt fest: verdammt, Master in London wird verdammt schwierig. Generell wird weiter studieren langsam schwierig, wenn auch vielleicht nur fürs Ego. Arbeiten, hingegen, könnte sich als noch ungleich schwieriger herausstellen, denn, wenn wir ehrlich zu uns sind, man kann eigentlich nichts. Der geneigte Geisteswissenschaftler kann hervorragend kellnern, verkaufen, Bücher sortieren, im Zweifelsfalle Taxi fahren oder Böden schrubben oder meinetwegen auch süßen Erstsemestern Tutorien geben - aber im Grunde können wir nichts, was im echten Leben von Nutzen wäre, oder?
Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob mich mein Studium in irgendeiner Form auf das, was nach dem Studium kommt, vorbereitet (hat). Wahrscheinlich haben mir meine diversen Fluchten vor dem Ernst des Lebens, paradoxerweise, langfristig betrachtet mehr genutzt, um eben jenem irgendwann die Stirn bieten zu können. Aber, und da haben wir es wieder: irgendwann. Eines Tages, alles, nur nicht heute. Sind wir denn bereit, da raus zu gehen, jetzt oder sonstwann? Sind wir irgendwann bereit, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, ein Haus abzubezahlen, Kinder zu bekommen? Sind wir jemals bereit dazu?
Freunde von mir haben kürzlich ihr zweites Kind bekommen. Andere Freunde gehen jeden Tag zur Arbeit, ein Haus zahlt zwar keiner ab,aber irgendwie kann das ja auch nur eine Frage der Zeit sein. Und alle sind sie noch am Leben, recht fidel sogar, die meisten von ihnen. Was also, was genau ist dieses Ding, das einen davon abhält, eines Tages zu "heute" zu machen?
Ich habe ein bisschen das Gefühl, darauf keine Antwort geben zu können. Schon allein, weil meine Antwort wahrscheinlich nicht eure wäre - wenn ich ehrlich bin, dann plane ich, mich nie mit dem Abbezahlen von Häusern herumzuärgern, oder mein Auto zum Autoarzt zu bringen. So richtig Lust auf sesshaft werden habe ich auch nicht, wobei ich jetzt nicht sagen kann, ob das in zehn Jahren immer noch so sein wird.
Und vermutlich komme ich damit der Antwort auf die Frage ("Warum") so nahe wie irgend möglich - irgendwann wird eines Tages heute sein, aber mit aller größter Wahrscheinlichkeit erst dann, wenn es sich richtig anfühlt. Solange wir nicht aus familiären/wirtschaftlichen/therapeutischen/Entertainmentgründen dazu gezwungen sind, etwas zu tun, das wir nicht wollen, warum sollen wir dann? Wer keinen festen Job will und trotzdem überlebt, der soll seinen Job doch meinetwegen jedes Jahr wechseln, in Deutschland und China und auf Guadeloupe arbeiten, wenn ihm danach ist. Und wenn ihm nicht mehr danach ist, dann wird es eines Tages sein, und er wird es ändern, auch, wenn es Angst macht, auch, wenn Veränderungen gruslig sind, auch, wenn einem vorher der Arsch erst mal auf Grundeis geht. Aber wem nie der kalte Schweiß ausgebrochen ist beim Anblick des sorgsam in Kisten verpackten und in einen Transporter verstauten Lebens, der wird auch nie was zu erzählen haben, oder? Wer nie alleine im einer hallenden, leeren Wohnung saß, nie in einem wildfremden Land aus dem Flieger gestiegen ist, nie einfach mal irgendeinen Mist gemacht hat, weil ihm gerade danach war - der erzählt später von dem, was hätte sein können. Hätte er, wäre er, würde er, schöne grammatische Form, der Konjunktiv.

Eines Tages packst du deine Sachen, du hast Angst und gehst doch fort.**

Irgendwann wird eines Tages sein, und bis dahin lasse ich euch nun allein, vorerst, damit ihr Zeit habt, meine mäandernden Gedanken zu verdauen (oder schnellstmöglich wieder zu vergessen) - somit also, cheers! Ich muss jetzt Game of Thrones schauen.


*Ja, ich habe gerade eine DJane zitiert.
** Und schon wieder.


Sonntag, 16. Februar 2014

London-ish


Eine Stadt in schwarz und weiß and an expressionist painting -
ein Einbeiniger im Rollstuhl sammelt halbaufgerauchte Zigarettenstummel vor dem Ritz, zündet sie wieder an und raucht sie bis zum Filter. Ein Mann mittleren Alters sitzt auf dem überlaufenden Leicester Square, sein handgeschriebenes Pappschild erzählt von Jobverlust, Obdachlosigkeit - und er dankt dir ernsthafter für die 30 pence, die du ihm gibst, als manch anderer für größeres gedankt hat in letzter Zeit.
Unweit davon kreischen die Massen George Clooney über den Teppich, er strahlt und verteilt großzügig Autogramme; er ist ganz oben, weiter geht nicht, er kann sich sein Strahlen und seine Autogramme leisten.
In den Tiefen der U-Bahnstation sitzt ein Gitarrist und spielt die Massen zur Ruhe, Entschleunigung; ein Moment, eine kleine, schillernde Blase im kollektiv nachhause trampelnden Feierabendverkehr.
Und inmitten aller ein Saxophonist, ein Fleckchen Gold und darüber schwebend, Jazztöne, weich und langsam, ein Netz aus Tönen, in denen sich die Horde verfängt, während sie rennt und rennt, im Kunstlicht und der Kälte.
Was man so trägt -
Nur Chinesen laufen in aller Öffentlichkeit mit Mundschutz herum. Alle laufen mit ihren Smartphones vor der Nase herum; am Tisch neben mir sitzt eine Frau, die einen Bauch mit sich herumträgt, einen schwangeren, dazu eine Tüte mit der Aufschrift "The Portland Hospital". Die meisten tragen Taschen, Rucksäcke, Tüten; und viele: Schal, bei den Temperaturen. Mützen, Handschuhe, die gelegentliche Sonnenbrille, es ist sonnig und wir sind in London. Das Gebäude gegenüber trägt Gerüst, das ziemt sich so.
Eine junge Asiatin (ohne Mundschutz) trägt einen schwarzen Rucksack, auf dessen Oberfläche gleichmäßig verteilt grellgelbe Stoffstacheln in die Luft stechen, seltsam deplatziert wie die Mandelstifte, die man als Kind in schokoladenüberzogene Birnenhälften gesteckt und das ganze "Igel" genannt hat.
Viele tragen sehr große Brillen. Ein Mann, vielleicht 25, trägt eine senfgelbe Wollmütze, darüber große Kopfhörer, aus denen Musik kommt, die mysteriöserweise denselben Takt anzuschlagen scheint wie die Musik in dem Café, in dem ich sitze. Seine Schritte passen sich nahtlos in den Pop der Lautsprecher über meinem Kopf ein, die großen, silbergrauen Papiertaschen, die er symmetrisch trägt, wippen gehorsam mit. Eine Fahrradrikscha trägt sich scheinbar schwerelos am Fenster vorbei - abfallender Straße sei Dank, sitzen doch drei Menschen auf ihrem kanariengelben und schwarz überdachten dreirädrigen Gestell. In London sind die Leute auch nicht leichter als in Indien.
Hinter mir trug wohl jemand ein Tablett, bis eben. Blecherner Krach, der auf dem Boden aufdotzt und sich kurz darauf wiederholt, schwächer, dann nichts mehr. Wahrscheinlich bückt sich jetzt jemand, ächzend, eine Hand auf der Schürze abstützend. Dann trägt er es weiter.
Immer weniger Leute scheinen Zigaretten zu tragen. Der Buckingham Palace trägt einen Union Jack. Manch einer trägt einen pikierten Gesichtsausdruck. Der angejährte Mann auf dem Gehweg trägt eine schwarze Pelzmütze zu Anzug und Aktentasche, mein schwarzer Mantel trägt Flecken.
Ich trage es mit Fassung.
Und dann steigt man in den Bus und steigt in Wales wieder aus. Reduziert sein Umfeld von 8 Millionen auf 7 Einzelindividuen und Pferde. Und fragt sich, was man hier eigentlich tut - aber das, meine Lieben, wird sich zeigen.