Dienstag, 14. Oktober 2014

Der Elfenbeinturm


Ich war mir ja immer bewusst darüber, dass in Tübingen ein besonderes Klima herrscht. Der raue Wind der breit schwäbisch giftenden Ökonazis, das nervenzehrende Geholper schmaler Fahrradreifen auf innenstädtischem Kopfsteinpflaster, die anstrengende Flut von Bioläden, die ganzen Kinder, das elitäre Gehabe des akademisch gebildeten Bürgertums, mit seinen Passivhäusern und Solarzellen auf dem Dach - ja, im Süden herrschen Verhältnisse, wie man sie sonst nicht kennt. In meinem Denken passte das Ganze am ehesten in die Rubrik 'hübsch, aber langweilig' und trieb mich bestenfalls in eine Richtung: weg.
Dann kam der Moment, in dem 'weg' tatsächlich Realität wurde und ich zog ein Stück nach Norden und Westen. Sagen wir, der Praktikabiliät halber, und weils so schön klingt, ich zog in den Wilden Westen, und hier bin ich nun, im Ruhrpott, Isa allein auf weiter Flur. Das heißt, allein mit den anderen 5,1 Millionen Menschen, die sich hier die Zeit mit Leben vertreiben und dabei gelegentlich ein Bier trinken gehen. Also nicht völlig allein. Eigentlich weit weniger allein als im mit Kernseife bioweich gespülten Tübingen, dessen Stadtkern gut auf den Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs passen würde, mit Luft an den Rändern. Und das ist auch gut so -'alle Wege führen nach Rom' kann in Tübingen ohne Probleme zu 'alle Wege führen auf die Wilhelmstraße' abgewandelt werden und wäre damit zu 100% richtiger als das ursprüngliche Sprichwort. Hand in Hand mit den geographischen Finessen dieses adretten, grünen Örtchens gehen aber auch die Einwohnerzahlen: die Gesamtzahl aller Tübingen entspricht nicht einmal zwei Prozent der Einwohner oben genannter Agglomeration, in der ich nun meine Zelte aufgeschlagen und die Kamele zum tränken an den Teich geführt habe. Was sagt uns das jetzt? Zum einen, dass man hier wohl nicht mehr abends in der Kneipe den amtierenden Oberbürgermeister treffen wird, der einem mit Lächeln im Gesicht und Muse für seine Arbeit und sein Städtchen im Kopf ein Kondom in die Hand drückt, das offensichtlich eigens zu diesem Zwecke gefertigt, verpackt und bedruckt worden ist (Wahlkampf, Freunde, Wahlkampf. Ich habe nicht mein Metier gewechselt. Zumal ich in diesem speziellen Beruf in Tübingen mit größter Wahrscheinlichkeit ohnehin arbeitslos gewesen wäre). Zudem, dass ich scheinbar eine Obsession mit möglichst großen Ansammlungen wohnender Menschen habe, ungeachtet dessen, was sich daraus so ergibt.
... Ungeachtet dessen, wirklich, Isa?
Fakt ist, seit einer Woche fühle ich mich ein bisschen wie Marshall Eriksen, kurz nach seinem Umzug aus dem beschaulichen Middletown, Connecticut nach New York City. Zugegeben, richtig Manhattan ist Essen nicht. Nichtmal mit viel gutem Willen, und das behaupte ich jetzt einfach mal, ohne je in Manhattan gewesen zu sein (dafür mit viel Passivwissen aus diversen TV-Shows ...). Trotzdem steht man, als jahrelanger Tübinger, auf einmal da und sieht sich mit der ganzen Überforderung konfrontiert, die das Jonglieren von Bussen, S-Bahnen und U-Bahnen mit sich bringt. Man zieht es nach einigen Tagen ernsthaft in Erwägung, dem Gott Google Maps einen Schrein zu errichten und ihm täglich zu huldigen, damit er einen ja nie im Stich lasse, was effektiv einem Todesurteil durch Verdursten in der nicht zu navigierenden Betonödnis der endlosen, aneinanderklebenden Städte dieses unseren Potts gleichkäme. Ein wenig ausgeufert, das Ganze. Kurzum, man fühlt sich wie ein Landei in der Großstadt, und wenn man ehrlich zu sich ist, dann ist man das in diesem Moment auch. Ob du vorher in München oder Wien gelebt hast interessiert nicht. Bombay, Dublin? Vergessen. Was zählt, ist dass die Fahrradwege spärlich, die Strecken weit und die Menschen irgendwie ... rau sind.
Raus aus dem Elfenbeiturm also und rein in U-Bahn-Schächte, in denen sich Halbbetrunkene anpöbeln und auf ihrem Weg zur völligen Betrunkenheit gegenseitig an die hundeurincharmanten Kachelwände schubsen, nachmittags um zwei. Rein in eine Innenstadt voller Punks, ein Phänomen, das man in seiner rundum versorgten und behüteten Zeit im wohligen Land des Bioterrors beinahe vergessen hatte. Und rein in eine Stadt, in der man sich nachts auf dem Nachhauseweg wieder Gedanken darüber macht, ob es wirklich ratsam ist, bestimmte Straßen alleine zu durchqueren.
Wir sehen also, es ist nicht mehr weit, bis ich meinen Marshall-Knüppel auspacke und mit gehetztem Blick um die Häuserecken schleiche (für alle, die es immer noch nicht zuordnen können: How I Met Your Mother, series 4, episode 2). Ob ich dabei den best burger in Essen ausfindig mache sei jetzt mal dahingestellt. Was sich mir jedoch aufdrängt (und da schließt sich der Kreis zu unseren New Yorker TV companieros) ist, dass ich, Burger hin oder her, vermutlich in ein paar Monaten über mich selbst lachen werde. Ein paar Assis am Bahnhof, Punks in der Fuzo, nächtliches Unwohlsein auf dem Heimweg, gibts eigentlich was Normaleres auf der Welt? Ist nicht irgendwie die kopfsteingepflasterte und strategisch begrünte Sicherheitszone Tübingen das viel Abnormere in unserem Vergleich hier?
Vermutlich schon. Glaubt man einschlägigen Zeitungen ist Tübingen die grünste Stadt Deutschlands. Ökologisch korrekt und Assi-bereinigt wird sie in ihrem in Recyclewatte gepackten Spießbürgertum untergehen und mit größter Wahrscheinlichkeit noch nicht mal den Anstand haben, sich dafür zu schämen. Und im Grunde, warum auch? Tübingen ist ein Unikum, sehr schön und sehr selten, und wer sich darin wohl fühlt, der hat den Jackpot gezogen auf den beschaulichen Wegchen entlang des Neckars, mit all seinen bunten Fachwerkhäusern, die sich in Jahren auf ihren ziegelgedeckten Buckeln wohl mit Yoda selbst messen können. Und wers nicht tut - der zieht eben weg und verfasst hinterher Texte, deren Sinn und Zweck nicht nur dem geneigten Leser an dieser Stelle ein wenig verschleiert erscheinen. Ich wollte doch raus, ich wollte doch in die Großstadt; vermisse ich diesen obskuren heile-Welt-Flecken Erde etwa?
Vermutlich - jain. Ich vermisse die Möglichkeit, alles in fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad zu erreichen. Und ich vermisse die ganzen Orte, die man zu seinen eigenen gemacht hat über die Jahre, die Bücherei (jaja, steinigt mich), den Bäcker, bei dem man sich so oft seinen Kaffee gekauft hat, dass man das Geld schon immer passend hatte. Ich vermisse meine Uni, an der ich mich im Dunkeln und mit geschlossenen Augen zurecht gefunden hätte. Ich vermisse nicht, hingegen - den miefigen Kleinstadtflair, der mit hübscher Bepflanzung, netten Radwegchen und einer Kinderinvasion, als gäbe es kein demographisches Problem, kommt. Ich vermisse nicht die Tatsache, dass es selbst ich in Tübingen am Ende nicht mehr geschafft habe, mich zu verlaufen. Ich vermisse nicht, dass Tübingen hübsch ist, aber beschränkt, dass man nach Stuttgart fahren muss, um sich einen Film auf Englisch anzuschauen, dass die elitären Bildungsbürger zwar gebildet sein mögen, aber trotzdem nicht  wirklich über ihren Tellerrand zu schauen scheinen.
Ich könnte die Liste jetzt wahrscheinlich noch ewig so weiterführen. Fakt ist - Tübingen ist schön, hier ist es anders. Endgültige Qualitätsurteile über Dinge, deren Beurteilung auf subjektiver Empfindung basieren abzugeben ist wohl ohnehin Schwachsinn. Was ich weiß ist, dass mich das Donnern der einfahrenden U-Bahn glücklich macht. Dass mich der riesige Campus glücklich macht. Dass ich mich durchaus mit dem Gott Google Maps arrangieren könnte, obgleich ich weiß, dass eben jener in ein paar Monaten auch ausgedient haben wird. Und und und. Wieder eine endlose Liste. Abschließen lässt sich das Ganze jetzt wohl nur mit der so völlig unkontroversen Akzeptanz, die man sich wahrscheinlich irgendwann aneignen sollte, wenn man dazu neigt, regelmäßig seinen Wohnort zu wechseln: jeder nach seiner Facon, und die Definition von 'Elfenbeinturm' ist wohl auch eher individuelle Angelegenheit. Am ehesten ists wohl einfach überall schön, wenn man es sich schön macht - freie Werbekondome hin oder her. Der Wahlkampf ist ja auch irgendwann mal vorbei.

Dienstag, 7. Oktober 2014

Erste Male (oder: Letzte Male II)

[Ich verspreche hoch und heilig, irgendwann auch mal wieder über was anderes zu schreiben]

Der erste Abend allein in der neuen Wohnung und wir üben uns im meditativen Kistenauspacken bei Handylicht. Die Sicherungen scheinen den gleichzeitigen Anschlag von Wasserkocher und Netzteil nicht verkraftet zu haben und haben sich verabschiedet, der Sicherungskasten ist selbstredend unauffindbar; zudem regnet es (nein, das Dach ist dicht). Der Einstand in der neuen Stadt scheint also ein ganz großer zu werden – duschen wird aus Beleuchtungsgründen im wahrsten Sinne des Wortes vertagt, die drei noch funktionstüchtigen Steckdosen in der Küche müssen ökonomisch eingesetzt werden, jede Bewegung vervielfältigt sich im Hall der leeren Wände. Man kennt niemanden in der Stadt. Die Leute reden mit komischem Dialekt und man fühlt sich fremd, ohne Ortskenntnis, ohne Zuflüchte, ohne Freunde, die abends mit einem am Küchentisch sitzen und einem sagen ist doch gar nicht so schlimm.
Es wäre so leicht, zu verzweifeln. Sich hinzusetzen, im dunklen Bad auf den Boden, und zu heulen, verwischte Mascara sieht ohnehin keiner, erstens gibt es kein Licht; zweitens ist keiner da. So leicht.
Weggehen ist schrecklich schön. Erschreckend beängstigend und wunderbar. Das wusste schon Hesse, auch wenn wir das totgeleierte Gedicht jetzt nicht zur Rate ziehen werden. Trotzdem hat er recht. Wir bewegen uns voran und wandeln uns kontinuierlich; manch einer tut das, indem er sich physisch bewegt, seine Habseligkeiten in alte, marode gewordene Kisten sperrt und hunderte von Kilometer durchs Land karrt, andere brauchen den eigentlichen Weg nicht und gehen ihn im Kopf. Beides kann einen vermutlich an den Rand der Verzweiflung bringen, darüber hinaus und hinein in den nächsten Abschnitt, und beides sollte man vermutlich nicht alleine machen.
Und trotzdem sitze ich hier alleine in meiner Wohnung und höre mir selbst beim Tippen zu. Das Auspacken hat man aufgegeben zugunsten von Keksen; man beobachtet den Mond, derselbe wie immer, der, den man schon vor zwei, vor fünf, vor zehn Jahren angeschaut hat. Dessen Gesicht einem immer mehr wie ein Schrei als ein Lachen vorkommt, auch wenn man sich jede erdenkliche Mühe gibt, zu tun als wäre es anders. Mit dem man in langen Nächten geredet hat, hallo, Mond, da oben. Wäre schön, wenn mir jemand zuhört.
Was also hält einen davon ab, sich vor dem Klo in die Hocke zu lassen und sich selbst zu bedauern, sich zu fragen, warum um alles in der Welt man seinen sicheren, nestwarmen Hafen zurückgelassen hat im Tausch gegen eine große, graue, fremde Stadt? Die Kekse sind es nicht (zumindest nicht nur). Der Mond hat auch noch nie geantwortet, auch wenn man ihn noch so lang und vorwurfsvoll anstarrt. 
Ich glaube, es sind gerade Abende wie heute. Genau das, was einen verzweifeln lassen kann, kann einen auch retten. Weggehen ist schrecklich, aber es ist auch schön – und dunkle Nächte in hallenden Wohnungen sind genau dasselbe. Nie fühlte sich das Leben mehr nach Verlust und Versprechen, nach absoluter Einsamkeit und unendlichen Möglichkeiten an wie an dieser Schwelle zwischen alt und neu. Nie sind die Nerven so gespannt wie in den Momenten, in denen man alleine aus einem Flugzeug steigt, fünftausend Kilometer von zuhause, bewaffnet nur mit einem zehn Kilo Rucksack. Nie ist man so verzweifelt wie in den Zeiten, in denen man niemanden bei sich hat, auf den man sich verlassen kann – und gleichzeitig ist man nie so stark und so offen für neue Menschen. Nie fühlt man sich so fremd so und zuhause gleichzeitig wie ein einem neuen Zimmer mit kahlen Wänden, vor denen sich die alten Kisten mit denselben Büchern wie vor fünf Jahren stapeln, während der Mond, rund und unveränderlich, durchs Fenster scheint und einen daran erinnert, dass es nicht vorbei ist; es fängt gerade erst an.
Ich sitze jetzt hier und tippe anstatt heulend auf dem Boden zu hocken, weil mein Handy mich seit Tagen daran erinnert, dass ich über unsere letzte WG Party schreiben wollte. Dass ich davon schreiben wollte, wie sehr letzte Male mir an die Nerven gehen, wie leicht ich komplett die Kontrolle verliere beim simplen Gedanken daran, dass ich etwas zum letzten Mal tue. Und wie sehr ich genau diese Situationen trotzdem immer wieder suche, wie sehr ich mich dafür verfluche, und wie sehr ich letztendlich darin aufgehe, neu zu beginnen. Wie melancholisch-schön letzte Male, und wie beängstigend-schön erste Male sind. Wie sehr ich meine Vergangenheit jetzt schon vermisse und wie sehr ich mich auf meine Zukunft freue – und wie sehr ich eigentlich gewillt bin, beides zu vereinen.
Wer sagt mir, dass letzte Male letzte Male sind? Erste Male vergehen schnell, aus ihnen werden zweite und dritte, siebte und hunderte Male, und dann werden sie zu letzten Malen. Aber warum? Warum sollen die Dinge, die einem im Hals stecken bleiben, wenn man sie plötzlich ein letztes Mal tut, wirklich nie wieder kommen? Die Sachen, die einem runtergehen wie sonst auch, die man schluckt, vergisst und ausscheidet und erst Jahre später merkt, sie nie wieder gesehen zu haben, die waren es nicht wert, vermisst zu werden. Die, die einem kantig in der Kehle kratzen und schwer im Magen liegen, das sind die Dinge, an denen man sich aufhalten kann, und die man versuchen soll, am Rockzipfel zu erwischen, sie bei sich zu halten, und sei es noch so locker. Letzte Male, die es wert sind, sind nicht das Ende, sie sind der Anfang; dieselben Spieler, andere Regeln.
Alles Neue wird irgendwann alt. Das Gute bleibt, das weniger Gute kommt auf den Sperrmüll. Aber aus den Momenten, Ideen, Menschen, die wir behalten, und dem, was im ständigen Wandel immer neu dazukommt, daraus machen wir uns selbst. Aus all den WG Parties, die wir gegeben haben, aus all den Menschen, die wir in der Ferne aufgesammelt und für gut befunden haben, aus all den zurückgelassenen Hausschlüsseln, den leeren Zimmern, die hinter uns liegen und denen, in die wir gerade erst einziehen. Wir sammeln Einzelteile ein und setzen sie zusammen, und alle sind zu irgendetwas gut, auch die lichtlosen Nächte in neuen Wohnungen. Auch die nagende Frage, warum man gegangen ist. Warum man eigentlich immer wieder alles über den Haufen wirft.
Weil letzte Male kein Ende sind, sondern ein Anfang, deswegen.

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Letzte Male


Und wieder hat man sich zwei Monate in Schweigen gehüllt.
Die letzten acht Wochen waren das emotionale Äquivalent einer Bergetappe während der Tour de France, es geht bergauf und wieder bergab, und wieder bergauf ... und irgendwann brennen die Muskeln und man ist sehr versucht, einfach abzusteigen und sich an den Straßenrand zu setzen, aber jedes Mal, wenn man kurz davor ist, schreit einen sein kleiner, interner Udo Bölts an, "Quäl dich, du Sau!" und man quält sich und macht weiter, so wie Jan Ullrich auch weitergemacht hat. Natürlich wissen wir inzwischen, dass der gute Ulle gedopt war und Udo ganz genauso, aber das schweigen wir staubig und kehren es unter den Teppich, sonst kommen wir ja nie ans Ziel. Stattdessen: quäl dich, du Sau. Dann gewinnste auch die Tour.
In jedem Fall. Das Quälen ist inzwischen vorbei, die Thesis ist abgegeben (ja, das war das Stichwort, aufzustehen und in frenetische Standing Ovations zu verfallen), der Job und sonstige Unannehmlichkeiten auch. Tatsächlich ist man gerade für eine Woche einfach nur frei. Und da das den unumstößlichen Gesetzen des Universums zu entsprechen scheint, verfällt man, sobald der Kopf nicht mehr mit dringlicherem Beschäftigt ist, in seinen Grübelmodus und grübelt seine frischegefangene Freiheit tot, wo kämen wir denn da auch hin. Man grübelt, ob es die richtige Entscheidung war, zum Master 500 Km weit weg zu ziehen. Man grübelt, warum einem am Telefon mit den eigenen Eltern zunehmend schneller der Gesprächsstoff ausgeht. Man grübelt, ob in Kinderschokolade Gluten enthalten ist, ob der Sommer jetzt endgültig vorbei ist, ob man Freunde je wieder sieht und ob man nicht vielleicht schon mal wieder in den Startlöchern zum nächsten Sprint weg von sich selbst und seinem Leben ist, denn ja! Am anderen Ende der 500 Km Sprintstrecke ist man natürlich jemand anderes, jemand, der keine Kinderschokolade zum Frühstück isst (und sich nebenher Gedanken über besagten Glutengehalt macht), der sich nicht im Zweijahresrhythmus die Haare schneidet, obwohl man sehr gut weiß, dass man es nach spätestens einer Woche bereuen wird; jemand, der alles in allem einfach weniger man selbst und mehr eine optimierte Version davon ist. Und da individuelle Optimierungsprozesse natürlich, wie jeder weiß, durch Kisten packen und weit weg ziehen in die Wege geleitet werden, macht es selbstredend auch total viel Sinn, nach Jahren, die einen eigentlich eines Besseren belehrt haben sollten, wieder in alte Muster zu verfallen und ... umzuziehen.
Und nicht mal eine Woche vor dem großen Happening sitzt man dann also an seinem Schreibtisch und fragt sich, was zur Hölle man da eigentlich tut. Ist man nicht eigentlich ganz zufrieden gerade mit dem Stand der Dinge? Hätte man sich nicht auch einen adäquaten Master weniger weit weg suchen können? Gibt es nicht eigentlich auch hier größere Städte, in die man stattdessen hätte ziehen können, wenn man es schon nicht mehr in seinem besseren Dörfchen aushält, in dem man die letzten drei Jahre zugebracht hat? Ja und ja und ja (und ja?). Trotzdem tut mans. Und eigentlich ist es jetzt auch zu spät, sich darüber noch Gedanken zu machen.
Manchmal fragt man sich, ob man jemals aufhören wird, sich selbst im Weg zu stehen. Ob man sich irgendwann mit dem Konzept des Glücklichseins wird arrangieren können, ohne, sobald man merkt, dass es einem gut geht, sich schnell irgendeine Lebenskrise aus der Nase zu ziehen, um diesen zugegeben doch irgendwie bedrohlichen Zustand schnellstmöglich zu torpedieren. Glücklich kann ich nicht. Thanks for the tragedy, I need it for my art. Eigentlich wollte ich Kurt Cobain nicht zitieren, fühlt sich so teenage self-hatred an. Ah, what are you gonna do.
Ernüchternde Tatsache nun aber: tragedy hilft meiner art einfach null weiter. Die persönlichen Tragödien und kleineren und größeren Dramen machen mich extrem unproduktiv. Da ich aber unter unheilbarem Produktivitätszwang leide, vergrößert sich das Drama durch die Unproduktivität nur noch und dadurch wiederum ... wir sehen, hier handelt es sich um hervorragendes doom loop material. Viele Wege rein, keiner mehr raus. Heimtückisch.
Andererseits wiederum - wäre man denn zufriedener gewesen, wenn man alles, worüber man hier so schön theoretisch (keine Gefahr in wilden Hypothesen) philosophiert auch gemacht hätte? Wäre ich jetzt in irgendeiner anderen Situation, wenn ich nicht weggehen würde, wenn ich weniger weit weg gehen würde, wenn ich mich einfach mal nicht am glücklich sein hindern würde?
Wäre man denn wirklich glücklicher, wenn wieder alles anders wäre?
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass bei der Überlegung dieselben Prinzipien am laufen sind wie bei denen, die mich immer wieder umziehen lassen: wenn alles anders wäre, dann wäre alles besser. Wenn ich meinen Status quo radikal über den Haufen werfe, wird alles gut. Dann wird das zu gruslig, nimmt zu echte Züge an, und eine neue Lösung muss her. Wenn ich meine Entscheidung, meinen Status quo radikal über den Haufen zu werfen, revidiere, wieder alles anders mache, dann wird wirklich alles gut, ganz sicher [aufatmen, nochmal Glück gehabt]. Dass ich damit zurück auf Null bin und faktisch nichts geändert habe, wird ignoriert, man verwirre mich nicht mit Fakten! Ich will in meinem emotionalen Sumpf bleiben und mich selbst bedauern, armes Kind, armes Kind, was ham dir die Leute nur anjetan. Tja, nichts, eigentlich, in der Regel nehme ich das selbst in die Hand, aber wie gesagt: nicht so viel Realität, bitte, mir ging es gerade gut.
Was schließen wir daraus (gut, was schließe ich daraus, ja. Die Tatsache, dass ich ein narzisstischer Selbstreflektierer bin heißt ja nicht, dass ihr da mitziehen müsst ...)? Wir schließen, dass es irgendwie aussichtslos ist. Oder, dass die Wege aus meinem Kreisel, in dem ich mich zu drehen scheine, andere sein müssen als die, die ich in der Regel in Betracht ziehe. Bleibt nur die Frage, welche das dann wären, denn allem Anschein nach bin ich da ja nicht so gut informiert. Vielleicht sollte man aber wirklich am Kernpunkt ansetzen: man geht, obwohl man bleiben will, aber trotzdem gehen will, weil einen im Grunde beide Möglichkeiten verrückt machen. Man versucht, seine Brücken hinter sich abzufackeln und baut gleichzeitig neue, um ja keinen Erfolg zu haben mit dem Unterfangen Brückentod. Man hat Angst, verlassen zu werden - deswegen geht man, ehe es die anderen tun können.
Aha.
Was aber, wenn die anderen das gar nicht wollen? Wenn eigentlich im Grunde niemand die Absicht hatte, einen alleine zu lassen? Was dann, hm?
Dann müsste man sich tatsächlich mit der Idee des Bleibens auseinandersetzen. Müsste den fiesen Tatsachen ins Augen sehen, die da heißen keiner will dir etwas Böses (wir gehen jetzt mal davon aus, dass keine religiösen Fundamentalisten mitlesen, die den Sprengstoffgürtel schon akkurat umgeschnallt haben und nur darauf warten, sich in Kürze vor meiner oder eurer Haustür in die Luft zu jagen). Keiner will dir den Lutscher vor die Nase halten und dann ätsch-bätsch sagen und ihn wieder weg ziehen, kaum dass man den Glutengehalt von Lutschern gecheckt und dann die informierte Entscheidung für das Lutschercraving getroffen hat. In der Regel, zumindest. Sollte man meinen.
Trotzdem ist es nun aber so, dass man geht. Man weiß auch nicht, ob man wirklich bleiben wollte, oder ob momentan nur die Panik aus einem spricht, und einem Ideen in den Kopf setzt, deren Sinnhaftigkeit man noch nicht voll durchschaut hat. Und selbst wenn es so wäre, wenn man eigentlich bleiben sollte - man kann ja wieder kommen. Und tatsächlich sind eigentlich auch 500 Km nicht so weit, relativ betrachtet. Und würde man nicht gehen, man könnte viele Dinge nicht so schätzen, wie man es tut, eben weil man geht. Das Weggehen, das am persönlichen Horizont hängt wie die klischeehaft metaphorischen Gewitterwolken, lässt einen viele Dinge in einem anderen Licht sehen (auch wie die klischeehaft metaphorischen Gewitterwolken ...). Das Vorzeichen "letztes Mal" macht vieles anders, ein bisschen melancholisch, aber gut melancholisch. Man weiß, was man hat, wenn man merkt: das wars jetzt. Das war das letzte Mal, und eigentlich ist es auch ein bisschen schade. Bei anderen Dingen ist es mehr als ein bisschen schade, bei manchen ist es traurig. Aber dann kann man sich ja wieder vor Augen führen, dass einem keiner den Lutscher wegnimmt, nur weil man umgezogen ist, man nicht als Aussätziger geächtet wird, nur, weil man in einem anderen Bundesland lebt. Und dass es verdammt nochmal Züge gibt, die einen von einem Ort an den anderen bringen, und wenn sie dafür 500 Km fahren müssen. Dass man nicht immer vor sich selbst davonläuft, nur weil man läuft. Dass man eigentlich weiß, dass man ohne die gesammelten Sprints der letzten neun Jahre nicht der wäre, der man geworden ist, und den man eigentlich inzwischen ja doch ein bisschen mag (Kinderschokolade hin oder her).
Man läuft vielleicht nicht immer vor sich davon, sondern hinter sich her. Vielleicht holt man sich ja irgendwann ein.
Amen.