Dienstag, 7. Oktober 2014

Erste Male (oder: Letzte Male II)

[Ich verspreche hoch und heilig, irgendwann auch mal wieder über was anderes zu schreiben]

Der erste Abend allein in der neuen Wohnung und wir üben uns im meditativen Kistenauspacken bei Handylicht. Die Sicherungen scheinen den gleichzeitigen Anschlag von Wasserkocher und Netzteil nicht verkraftet zu haben und haben sich verabschiedet, der Sicherungskasten ist selbstredend unauffindbar; zudem regnet es (nein, das Dach ist dicht). Der Einstand in der neuen Stadt scheint also ein ganz großer zu werden – duschen wird aus Beleuchtungsgründen im wahrsten Sinne des Wortes vertagt, die drei noch funktionstüchtigen Steckdosen in der Küche müssen ökonomisch eingesetzt werden, jede Bewegung vervielfältigt sich im Hall der leeren Wände. Man kennt niemanden in der Stadt. Die Leute reden mit komischem Dialekt und man fühlt sich fremd, ohne Ortskenntnis, ohne Zuflüchte, ohne Freunde, die abends mit einem am Küchentisch sitzen und einem sagen ist doch gar nicht so schlimm.
Es wäre so leicht, zu verzweifeln. Sich hinzusetzen, im dunklen Bad auf den Boden, und zu heulen, verwischte Mascara sieht ohnehin keiner, erstens gibt es kein Licht; zweitens ist keiner da. So leicht.
Weggehen ist schrecklich schön. Erschreckend beängstigend und wunderbar. Das wusste schon Hesse, auch wenn wir das totgeleierte Gedicht jetzt nicht zur Rate ziehen werden. Trotzdem hat er recht. Wir bewegen uns voran und wandeln uns kontinuierlich; manch einer tut das, indem er sich physisch bewegt, seine Habseligkeiten in alte, marode gewordene Kisten sperrt und hunderte von Kilometer durchs Land karrt, andere brauchen den eigentlichen Weg nicht und gehen ihn im Kopf. Beides kann einen vermutlich an den Rand der Verzweiflung bringen, darüber hinaus und hinein in den nächsten Abschnitt, und beides sollte man vermutlich nicht alleine machen.
Und trotzdem sitze ich hier alleine in meiner Wohnung und höre mir selbst beim Tippen zu. Das Auspacken hat man aufgegeben zugunsten von Keksen; man beobachtet den Mond, derselbe wie immer, der, den man schon vor zwei, vor fünf, vor zehn Jahren angeschaut hat. Dessen Gesicht einem immer mehr wie ein Schrei als ein Lachen vorkommt, auch wenn man sich jede erdenkliche Mühe gibt, zu tun als wäre es anders. Mit dem man in langen Nächten geredet hat, hallo, Mond, da oben. Wäre schön, wenn mir jemand zuhört.
Was also hält einen davon ab, sich vor dem Klo in die Hocke zu lassen und sich selbst zu bedauern, sich zu fragen, warum um alles in der Welt man seinen sicheren, nestwarmen Hafen zurückgelassen hat im Tausch gegen eine große, graue, fremde Stadt? Die Kekse sind es nicht (zumindest nicht nur). Der Mond hat auch noch nie geantwortet, auch wenn man ihn noch so lang und vorwurfsvoll anstarrt. 
Ich glaube, es sind gerade Abende wie heute. Genau das, was einen verzweifeln lassen kann, kann einen auch retten. Weggehen ist schrecklich, aber es ist auch schön – und dunkle Nächte in hallenden Wohnungen sind genau dasselbe. Nie fühlte sich das Leben mehr nach Verlust und Versprechen, nach absoluter Einsamkeit und unendlichen Möglichkeiten an wie an dieser Schwelle zwischen alt und neu. Nie sind die Nerven so gespannt wie in den Momenten, in denen man alleine aus einem Flugzeug steigt, fünftausend Kilometer von zuhause, bewaffnet nur mit einem zehn Kilo Rucksack. Nie ist man so verzweifelt wie in den Zeiten, in denen man niemanden bei sich hat, auf den man sich verlassen kann – und gleichzeitig ist man nie so stark und so offen für neue Menschen. Nie fühlt man sich so fremd so und zuhause gleichzeitig wie ein einem neuen Zimmer mit kahlen Wänden, vor denen sich die alten Kisten mit denselben Büchern wie vor fünf Jahren stapeln, während der Mond, rund und unveränderlich, durchs Fenster scheint und einen daran erinnert, dass es nicht vorbei ist; es fängt gerade erst an.
Ich sitze jetzt hier und tippe anstatt heulend auf dem Boden zu hocken, weil mein Handy mich seit Tagen daran erinnert, dass ich über unsere letzte WG Party schreiben wollte. Dass ich davon schreiben wollte, wie sehr letzte Male mir an die Nerven gehen, wie leicht ich komplett die Kontrolle verliere beim simplen Gedanken daran, dass ich etwas zum letzten Mal tue. Und wie sehr ich genau diese Situationen trotzdem immer wieder suche, wie sehr ich mich dafür verfluche, und wie sehr ich letztendlich darin aufgehe, neu zu beginnen. Wie melancholisch-schön letzte Male, und wie beängstigend-schön erste Male sind. Wie sehr ich meine Vergangenheit jetzt schon vermisse und wie sehr ich mich auf meine Zukunft freue – und wie sehr ich eigentlich gewillt bin, beides zu vereinen.
Wer sagt mir, dass letzte Male letzte Male sind? Erste Male vergehen schnell, aus ihnen werden zweite und dritte, siebte und hunderte Male, und dann werden sie zu letzten Malen. Aber warum? Warum sollen die Dinge, die einem im Hals stecken bleiben, wenn man sie plötzlich ein letztes Mal tut, wirklich nie wieder kommen? Die Sachen, die einem runtergehen wie sonst auch, die man schluckt, vergisst und ausscheidet und erst Jahre später merkt, sie nie wieder gesehen zu haben, die waren es nicht wert, vermisst zu werden. Die, die einem kantig in der Kehle kratzen und schwer im Magen liegen, das sind die Dinge, an denen man sich aufhalten kann, und die man versuchen soll, am Rockzipfel zu erwischen, sie bei sich zu halten, und sei es noch so locker. Letzte Male, die es wert sind, sind nicht das Ende, sie sind der Anfang; dieselben Spieler, andere Regeln.
Alles Neue wird irgendwann alt. Das Gute bleibt, das weniger Gute kommt auf den Sperrmüll. Aber aus den Momenten, Ideen, Menschen, die wir behalten, und dem, was im ständigen Wandel immer neu dazukommt, daraus machen wir uns selbst. Aus all den WG Parties, die wir gegeben haben, aus all den Menschen, die wir in der Ferne aufgesammelt und für gut befunden haben, aus all den zurückgelassenen Hausschlüsseln, den leeren Zimmern, die hinter uns liegen und denen, in die wir gerade erst einziehen. Wir sammeln Einzelteile ein und setzen sie zusammen, und alle sind zu irgendetwas gut, auch die lichtlosen Nächte in neuen Wohnungen. Auch die nagende Frage, warum man gegangen ist. Warum man eigentlich immer wieder alles über den Haufen wirft.
Weil letzte Male kein Ende sind, sondern ein Anfang, deswegen.

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