Dienstag, 14. Oktober 2014

Der Elfenbeinturm


Ich war mir ja immer bewusst darüber, dass in Tübingen ein besonderes Klima herrscht. Der raue Wind der breit schwäbisch giftenden Ökonazis, das nervenzehrende Geholper schmaler Fahrradreifen auf innenstädtischem Kopfsteinpflaster, die anstrengende Flut von Bioläden, die ganzen Kinder, das elitäre Gehabe des akademisch gebildeten Bürgertums, mit seinen Passivhäusern und Solarzellen auf dem Dach - ja, im Süden herrschen Verhältnisse, wie man sie sonst nicht kennt. In meinem Denken passte das Ganze am ehesten in die Rubrik 'hübsch, aber langweilig' und trieb mich bestenfalls in eine Richtung: weg.
Dann kam der Moment, in dem 'weg' tatsächlich Realität wurde und ich zog ein Stück nach Norden und Westen. Sagen wir, der Praktikabiliät halber, und weils so schön klingt, ich zog in den Wilden Westen, und hier bin ich nun, im Ruhrpott, Isa allein auf weiter Flur. Das heißt, allein mit den anderen 5,1 Millionen Menschen, die sich hier die Zeit mit Leben vertreiben und dabei gelegentlich ein Bier trinken gehen. Also nicht völlig allein. Eigentlich weit weniger allein als im mit Kernseife bioweich gespülten Tübingen, dessen Stadtkern gut auf den Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs passen würde, mit Luft an den Rändern. Und das ist auch gut so -'alle Wege führen nach Rom' kann in Tübingen ohne Probleme zu 'alle Wege führen auf die Wilhelmstraße' abgewandelt werden und wäre damit zu 100% richtiger als das ursprüngliche Sprichwort. Hand in Hand mit den geographischen Finessen dieses adretten, grünen Örtchens gehen aber auch die Einwohnerzahlen: die Gesamtzahl aller Tübingen entspricht nicht einmal zwei Prozent der Einwohner oben genannter Agglomeration, in der ich nun meine Zelte aufgeschlagen und die Kamele zum tränken an den Teich geführt habe. Was sagt uns das jetzt? Zum einen, dass man hier wohl nicht mehr abends in der Kneipe den amtierenden Oberbürgermeister treffen wird, der einem mit Lächeln im Gesicht und Muse für seine Arbeit und sein Städtchen im Kopf ein Kondom in die Hand drückt, das offensichtlich eigens zu diesem Zwecke gefertigt, verpackt und bedruckt worden ist (Wahlkampf, Freunde, Wahlkampf. Ich habe nicht mein Metier gewechselt. Zumal ich in diesem speziellen Beruf in Tübingen mit größter Wahrscheinlichkeit ohnehin arbeitslos gewesen wäre). Zudem, dass ich scheinbar eine Obsession mit möglichst großen Ansammlungen wohnender Menschen habe, ungeachtet dessen, was sich daraus so ergibt.
... Ungeachtet dessen, wirklich, Isa?
Fakt ist, seit einer Woche fühle ich mich ein bisschen wie Marshall Eriksen, kurz nach seinem Umzug aus dem beschaulichen Middletown, Connecticut nach New York City. Zugegeben, richtig Manhattan ist Essen nicht. Nichtmal mit viel gutem Willen, und das behaupte ich jetzt einfach mal, ohne je in Manhattan gewesen zu sein (dafür mit viel Passivwissen aus diversen TV-Shows ...). Trotzdem steht man, als jahrelanger Tübinger, auf einmal da und sieht sich mit der ganzen Überforderung konfrontiert, die das Jonglieren von Bussen, S-Bahnen und U-Bahnen mit sich bringt. Man zieht es nach einigen Tagen ernsthaft in Erwägung, dem Gott Google Maps einen Schrein zu errichten und ihm täglich zu huldigen, damit er einen ja nie im Stich lasse, was effektiv einem Todesurteil durch Verdursten in der nicht zu navigierenden Betonödnis der endlosen, aneinanderklebenden Städte dieses unseren Potts gleichkäme. Ein wenig ausgeufert, das Ganze. Kurzum, man fühlt sich wie ein Landei in der Großstadt, und wenn man ehrlich zu sich ist, dann ist man das in diesem Moment auch. Ob du vorher in München oder Wien gelebt hast interessiert nicht. Bombay, Dublin? Vergessen. Was zählt, ist dass die Fahrradwege spärlich, die Strecken weit und die Menschen irgendwie ... rau sind.
Raus aus dem Elfenbeiturm also und rein in U-Bahn-Schächte, in denen sich Halbbetrunkene anpöbeln und auf ihrem Weg zur völligen Betrunkenheit gegenseitig an die hundeurincharmanten Kachelwände schubsen, nachmittags um zwei. Rein in eine Innenstadt voller Punks, ein Phänomen, das man in seiner rundum versorgten und behüteten Zeit im wohligen Land des Bioterrors beinahe vergessen hatte. Und rein in eine Stadt, in der man sich nachts auf dem Nachhauseweg wieder Gedanken darüber macht, ob es wirklich ratsam ist, bestimmte Straßen alleine zu durchqueren.
Wir sehen also, es ist nicht mehr weit, bis ich meinen Marshall-Knüppel auspacke und mit gehetztem Blick um die Häuserecken schleiche (für alle, die es immer noch nicht zuordnen können: How I Met Your Mother, series 4, episode 2). Ob ich dabei den best burger in Essen ausfindig mache sei jetzt mal dahingestellt. Was sich mir jedoch aufdrängt (und da schließt sich der Kreis zu unseren New Yorker TV companieros) ist, dass ich, Burger hin oder her, vermutlich in ein paar Monaten über mich selbst lachen werde. Ein paar Assis am Bahnhof, Punks in der Fuzo, nächtliches Unwohlsein auf dem Heimweg, gibts eigentlich was Normaleres auf der Welt? Ist nicht irgendwie die kopfsteingepflasterte und strategisch begrünte Sicherheitszone Tübingen das viel Abnormere in unserem Vergleich hier?
Vermutlich schon. Glaubt man einschlägigen Zeitungen ist Tübingen die grünste Stadt Deutschlands. Ökologisch korrekt und Assi-bereinigt wird sie in ihrem in Recyclewatte gepackten Spießbürgertum untergehen und mit größter Wahrscheinlichkeit noch nicht mal den Anstand haben, sich dafür zu schämen. Und im Grunde, warum auch? Tübingen ist ein Unikum, sehr schön und sehr selten, und wer sich darin wohl fühlt, der hat den Jackpot gezogen auf den beschaulichen Wegchen entlang des Neckars, mit all seinen bunten Fachwerkhäusern, die sich in Jahren auf ihren ziegelgedeckten Buckeln wohl mit Yoda selbst messen können. Und wers nicht tut - der zieht eben weg und verfasst hinterher Texte, deren Sinn und Zweck nicht nur dem geneigten Leser an dieser Stelle ein wenig verschleiert erscheinen. Ich wollte doch raus, ich wollte doch in die Großstadt; vermisse ich diesen obskuren heile-Welt-Flecken Erde etwa?
Vermutlich - jain. Ich vermisse die Möglichkeit, alles in fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad zu erreichen. Und ich vermisse die ganzen Orte, die man zu seinen eigenen gemacht hat über die Jahre, die Bücherei (jaja, steinigt mich), den Bäcker, bei dem man sich so oft seinen Kaffee gekauft hat, dass man das Geld schon immer passend hatte. Ich vermisse meine Uni, an der ich mich im Dunkeln und mit geschlossenen Augen zurecht gefunden hätte. Ich vermisse nicht, hingegen - den miefigen Kleinstadtflair, der mit hübscher Bepflanzung, netten Radwegchen und einer Kinderinvasion, als gäbe es kein demographisches Problem, kommt. Ich vermisse nicht die Tatsache, dass es selbst ich in Tübingen am Ende nicht mehr geschafft habe, mich zu verlaufen. Ich vermisse nicht, dass Tübingen hübsch ist, aber beschränkt, dass man nach Stuttgart fahren muss, um sich einen Film auf Englisch anzuschauen, dass die elitären Bildungsbürger zwar gebildet sein mögen, aber trotzdem nicht  wirklich über ihren Tellerrand zu schauen scheinen.
Ich könnte die Liste jetzt wahrscheinlich noch ewig so weiterführen. Fakt ist - Tübingen ist schön, hier ist es anders. Endgültige Qualitätsurteile über Dinge, deren Beurteilung auf subjektiver Empfindung basieren abzugeben ist wohl ohnehin Schwachsinn. Was ich weiß ist, dass mich das Donnern der einfahrenden U-Bahn glücklich macht. Dass mich der riesige Campus glücklich macht. Dass ich mich durchaus mit dem Gott Google Maps arrangieren könnte, obgleich ich weiß, dass eben jener in ein paar Monaten auch ausgedient haben wird. Und und und. Wieder eine endlose Liste. Abschließen lässt sich das Ganze jetzt wohl nur mit der so völlig unkontroversen Akzeptanz, die man sich wahrscheinlich irgendwann aneignen sollte, wenn man dazu neigt, regelmäßig seinen Wohnort zu wechseln: jeder nach seiner Facon, und die Definition von 'Elfenbeinturm' ist wohl auch eher individuelle Angelegenheit. Am ehesten ists wohl einfach überall schön, wenn man es sich schön macht - freie Werbekondome hin oder her. Der Wahlkampf ist ja auch irgendwann mal vorbei.

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