Sonntag, 3. Januar 2016

Guten Tag

Man darf mir keine nackten Smartphones anvertrauen. Mein neues ist kaum eine Woche alt und hat bereits eine Delle im Rahmen als hätte ich damit Squash gespielt. Jetzt trägt es standesgemäß Kondom und Folie. Aber das nur am Rande.
Die Feiertage waren ein interessantes Sozialexperiment, wie jedes Jahr, wir pflegen Traditionen, komme was wolle. Selbst einwöchiges, penetrantes Pfeifen im Ohr kann da nichts dran ändern; und auch das Pfeifen haben wir traditionsbewusst gehandelt. Ungefähr sieben Stimmen in meinem Kopf verfallen stehenden Fußes in Panik, ziehen sich an den Haaren, reißen anklagend die Hände gen Himmel und schreien unisono etwas in Richtung von DU MUSST STERBEN!, während eine einzelne Stimme sich indigniert den Staub von den Ärmeln streicht und dabei würdevoll unter gehobenen Brauen die Augen schließt und mit leiser, aber bestimmter Stimme Einwände anmeldet; es könnte ja auch sein, dass man nur gestresst ist, und vielleicht, ja ganz eventuell doch überleben könnte. Die sieben übrigen Stimmen halten dann in der Regel kurz inne und starren die einzelne Stimme entgeistert an, die die Gelegenheit nutzt, um erhaben wieder die Augen zu öffnen und aufgeräumt zurückzusehen. Für gewöhnlich wüten Stimmen 1 - 7 daraufhin weiter und Stimme 8 seufzt. Dennoch schaffe ich es gelegentlich, mich zu ihr in den Ohrenbackensessel zu zwängen, eine Pfeife zu rauchen und eine halbmondförmige Lesebrille aufzusetzen, die ich nicht brauche, und abzuwarten. Da ich immer noch unter den Lebenden weile, liegt die Vermutung nahe, dass Stimme 8 recht hatte. Stimmen 1 - 7 schmollen vorübergehend und proben derweil effektvolles Augenaufreißen, denn! Das nächste nicht identifizierte Ziepen kommt mit Sicherheit.
Feiertage und Silvester also, Zeitraffer. Wieder hinter uns. Wieder ein neues Jahr mit neuer Nummer, ein Schaltjahr; ich mag Schaltjahre. Bis Ende Februar ist es noch unangenehm weit. Vielleicht ist das auch gut, man sollte nicht immer nur darauf warten, dass irgendetwas vorbei ist, sondern das jetzt nehmen. Und andere arme Weisheiten zum Jahresbeginn.
Jetzt erstmal mitten rein in die posttraumatischen Stresstage nach Neujahr, in die weißen, stillen Tage Anfang Januar, während derer man das Gefühl hat, nicht einfach zwischen den Jahren, sondern zwischen den Zeiten und irgendwo in der Ritze zwischen verschiedenen Universen festzustecken, nichts ist wie zuvor und trotzdem ist alles gleich, man erwartet Neues und bekommt dasselbe wie immer, nur heller und kälter; man watet durch den seifigen Untergrund und kommt nicht recht voran, verliert sich aber in den schillernden Regenbögen auf dem Boden - niemand weiß, wohin mit sich, das neue Jahr am allerwenigsten, die Welt ist im Standbild eingefroren und tut ein paar seltsame, leere Tage lang nichts, als zwielichtig zu glitzern dabei, geräuschlos und irgendwie gefühllos wie ein Eiszapfen im Wald.
Ich will Frühling. Ich will morgens mit meinem Familieneimer Kaffee auf der Terrasse stehen und dem Raureif auf dem verbliebenen Gras dabei zusehen, wie er wegtaut, wie die Sonne langsam hinter den umliegenden Häusern hochkriecht und die Wildtauben beim Gurren beleuchtet. Ja, ich will irgendwo im Grünen sein, wenn der Frühling kommt, will wie Ronja Räubertochter durch den Wald rennen und schreien, so laut ich kann, um dem Winter leck mich zu sagen, und dem Frühling Willkommen. Willkommen Licht und Wärme und Neuanfang.
Irgendwie bin ich der Stadt gerade überdrüssig. Was seltsam ist, weil ich die vergangenen zwei Wochen in der tiefsten Pampa zugebracht habe, der Regelfall wäre erleichtertes Aufatmen, endlich wieder U-Bahn fahren zu können (endlich wieder überhaupt irgendwelche Öffis nehmen zu können; das heißt, häufiger als einmal die Stunde). Aber irgendwie - nein.
Gestern habe ich The End Of The Tour zum zweiten Mal gesehen. Jeder, der gerade eine ausgewachsene David Foster Wallace Obssession ausbrütet (so wie ich - ja, ich bin mir der Möglichkeit bewusst, dass ich damit in meinem näheren Umfeld zurzeit allein auf weiter Flur bin) sollte sich das mal anschauen, und am besten die präferierte Fassung von Infinite Jest oder auch Unendlicher Spaß (das käme jetzt auf die gewählte Präferenz an; und es ist keine Schande, dieses Buch auf Deutsch zu lesen, liebe fellow anglophiles, absolut keine Schande) griffbereit haben, denn, oh! Da tun sich Welten auf. Und Abgründe zwischen Welten, zwischen dem eigenen Schreiben und dem eines David Foster Wallace zum Beispiel, aber darüber sollte man der geistigen Gesundheit zuliebe nicht zuviel nachdenken. In jedem Fall lohnt es sich, beides, Film wie Buch, wobei ich beim Buch bislang nur wenig sagen kann. Ich erreiche Seite 100 (von ... 1500?) und erahne so langsam, was ich auf die ungeliebte Frage "Und worum gehts da?" antworten könnte. Vielleicht.
In jedem Fall aber - Frühling. The End Of The Tour spielt zu Teilen in der Abgeschiedenheit irgendwo in Illinois, und irgendwas daran fasziniert mich gerade fast so sehr wie die Sätze im genannten Buch, die sich über eineinhalb Seiten erstrecken, Fußnoten nicht eingerechnet. Morgens aufwachen (ja, morgens. In meinem Kopf werde ich in ländlichen Gegenden automatisch zum Frühaufsteher) und raus in den Schnee gehen, auf dem die Sonne gleißt und blendet und den Kaffee wilder dampfen lässt als eine Achtzigerdisko gegen zwei Uhr morgens. Alleine, nicht denken, nur schauen und warten und sein. Einfach nur sein und nicht grübeln, akzeptieren statt ändern wollen, im Nichts und im Schnee und im langsam über die Schneedecke, den Raureif, die im aktuellen Szenario am besten abwesenden Häuserfronten gegenüber kriechenden Frühling existieren. Dann wieder reingehen, wenn es zu kalt wird, und mehr Kaffee kochen. Sein und leben. Manchmal gar nicht so einfach.
Ich bin mir im Klaren darüber, dass meine mentale Landflucht momentan vermutlich mehr Ausdruck eines gewissen, uns natürlich vollkommen unbekannten, Fluchtinstinkts ist, der allem Anschein nach gerade mal wieder beschlossen hat, den Status quo für dumm zu erklären (wer könnte es ihm verübeln), und dass das Ganze weniger mit dem ländlichen Illinois zu tun hat als mit dem Drang, einfach irgendwo anders zu sein, am besten irgendjemand anders zu sein, aber das hat sich in der Vergangenheit ja schon mehrmals als schwieriger in die Tat umzusetzen erwiesen, also geben wir uns mal keinen Illusionen hin hier. Trotzdem. Gründe und Wahnvorstellungen mal beiseite, ein bisschen Abgeschiedenheit und Ruhe im Schnee wären geradezu fantastisch zurzeit. Geht nicht. Stattdessen lesen wir eben den Unendlichen Spaß. Zumindest der Titel suggeriert ja bessere Zeiten (der Rest nicht, aber das mal beiseite).
Und sonst so? Tja mal sehen. Heute sitzen und lesen. Alles weitere wird sich finden.
Frohes Neues, allerseits! Schön, mein Inneres mit euch zu teilen. Ich hoffe, ihr seid wohlauf. Alles weitere - wird sich finden.

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