Sonntag, 15. Juni 2014

Klarheiten


Die Menschen, die man früher war, die man abgelegt hat wie alte, abgenutzte Häute, trocken und schuppig, noch in der Form des eigenen Körpers, aber zu groß, rissig und verbraucht - die Menschen, die man war, und die man nicht mehr um sich herum haben möchte. Was tut man mit ihnen?
Die Menschen, die man immer noch ist, die man schon so lange mit sich herum trägt, dass man tatsächlich glaubt, sie wären man selbst. Und vermutlich sind sie es auch, oder warten sie nur darauf, abgestoßen zu werden?
Wer ist man eigentlich? Ist man einer dieser Menschen, ist man alle auf einmal? Sind wir die Summe unserer Einzelpersönlichkeiten, oder mehr als das?
In Momenten der Klarheit kommen plötzliche Erkenntnisse, stehen auf einmal im Raum und sehen einen an, während sie ihren Drink schwenken und langsam das Gewicht von einem auf das andere Bein verlagern, als wäre es das Natürlichste der Welt. Als wären sie immer da, und wir sind nur zu blind, um sie zu bemerken. Vermutlich haben sie recht. Aber wenn wir es schaffen, wenn wir einmal wirklich unsere Augen aufmachen, dann wirkt die Welt auf einmal so gestochen scharf, hyperrealistisch und deswegen surreal, aber mit der unmissverständlichen Botschaft: das ist es. Das hier, genau jetzt. Man lächelt ihm zu, dem Fremden mit dem Drink, der so lässig im eigenen Wohnzimmer steht oder in der dämmrig beleuchteten Kneipe; der mit einem abends im Freien sitzt und den eigenen Freunden beim Leben zusieht. Man lächelt ihm zu und hebt den eigenen Drink, denn man weiß, er hat recht.
Und dann versucht man ihn zu fassen, den Moment an den Haarspitzen zu erwischen, ihn festzuhalten. Man ruft ihm nach, sagt bleib, geh nicht, lass mich nicht alleine - aber er geht dennoch und nur Minuten später sitzt man wieder da und das Glas ist wieder beschlagen, die Klarheit verflogen und hat auf ihrem Weg nach draußen Zweifel und Fragen hereingelassen. Auf einmal weiß man wieder gar nichts und alles fühlt sich falsch an.
Aber die Momente kommen häufiger. Nicht nur, weil man versucht, sich selbst an sie zu erinnern, indem man sich Notizen macht, auf denen die kristallklaren Einsichten in die Welt und das Leben aufgezeichnet sind für die unweigerlichen, späteren Momente, in denen man sich so umnachtet fühlt, dass man sich kaum auf die Straße traut, aus Angst, gegen den nächsten Laternenmast zu laufen. Sie kommen auch deswegen häufiger, weil wir es ihnen leichter machen, immer leichter, je öfter sie schon bei uns waren und je mehr Aufmerksamkeit wir ihnen dabei geschenkt haben. Je ernster wir sie genommen haben, denn nicht immer sagt uns die uneingeladene Person inmitten geladener Gäste das, was wir hören wollen. Oder was wir für richtig halten. Oder was den Normen entspricht. Manchmal sagt sie, spring nackt ins Meer. Oder sprich ihn an. Oder steig in den Flieger, es ist egal, was danach kommt, solange du es jetzt nur tust. Jetzt, genau in diesem einen Moment der Klarheit, in dem du weißt: das ist es und ich muss darauf hören, sonst ist der Moment verloren. Und ist es nicht eigentlich das, was wir tun im Leben, Momente sammeln? Keine Abschlusszeugnisse oder Zielflaggen im Lebenslauf, kein es-den-anderen-recht-machen oder keine-Zeit-verschwenden. Momente, in denen sich das Leben richtig anfühlt. Ist es das?
Und unweigerlich verändern wir uns auf dem Weg. Wir legen die Menschen, die wir früher waren, ab. Bilden Häufchen aus alter Schlangenhaut neben den Türen unseres Lebens, streifen sie mit achtlosen Blicken, wenn wir nach den Schlüsseln suchen bevor wir das Haus verlassen. So richtig los werden wir die trockene Haut wohl nie, aber wir können uns dafür entscheiden, ihr keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Wir können, aber wir müssen nicht.
Sind wir also einer dieser Hauthaufen? Oder sind wir die Haut, die wir noch tragen? Irgendwann werden wir auch diese ablegen und zu einem weiteren Haufen neben dem Eingang machen. Sind wir alle zusammen, das eine mehr, das andere weniger?
Ich habe keine Ahnung. Keinen Schimmer. Nope, nichts.
Aber solange wir in klaren Momenten aufpassen, sie nutzen, solange sie da sind, und daraus Schlüsse ziehen, sind wir vielleicht wenigstens nicht ganz falsch. Man wird nie nur ein Mensch sein, aber vielleicht irgendwann einer, der weiß, welcher von den vielen er gerne wäre. Und vielleicht kommt ja genau zu diesem Zeitpunkt der eine Moment, der einem sagt, wie es funktioniert. Wie man dieser Mensch, der man sein will, wird. Und wenn nicht, dann suchen wir eben weiter.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen